Alexander Siedschlag

Ansichten der deutschen politischen Elite zur europäischen Sicherheitsarchitektur

Vortrag auf der Tagung „Zehn Jahre deutsch-polnischer Partnerschaft: Neue Herausforderungen und Chancen“, West-Institut (Instytut Zachodni) Poznan, 8.-9. Dezember 2000
 
 

Polen kommt in der Einschätzung der Bundesregierung ein zentraler und symptomatisch positiver Platz in der europäischen Sicherheitsarchitektur zu. Mit dem Beitritt gerade von Polen ist die Bedeutung Europas in der NATO weiter gestiegen. Als gewichtiges neues NATO-Mitglied und durch seine ausgeprägte transatlantische Orientierung hat Polen einen entscheidenden Beitrag zur weiteren strategischen und politischen Adaption des Bündnisses geleistet. Die deutsche Regierung bemüht sich darum, zu vermeiden, dass im Zuge der Entwicklung der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik die neuen NATO-Mitglieder aus diesem wichtigen Strang der europäischen Sicherheitsordnung ausgegrenzt werden. Sie setzt sich dafür ein, den europäischen NATO-Staaten, die nicht der EU angehören – also Polen, Ungarn, Tschechien, Norwegen, Island und Türkei –, angemessene Möglichkeiten der Beteiligung an künftigen EU-geführten Operationen einzuräumen.

Deutschland galt von Anfang an als ein Anwalt der NATO-Osterweiterung. Trotzdem stieß die Erweiterung bei unserer politischen Elite nicht nur auf Befürworter. Dabei ist es jedoch wichtig, daran zu erinnern, dass die Skeptiker einer NATO-Osterweiterung in Deutschland nicht Zweifel hinsichtlich der Bündnisfähigkeit der Kandidatenstaaten oder der ‚Verteidigbarkeit‘ bestimmter Regionen anmeldeten und ihre Bedenken auch nicht aus Unschlüssigkeit darüber ableiteten, ob die Aufnahme des einen oder anderen Staates Nachbarschaftskonflikte oder Minderheitenprobleme lösen helfen oder eher verstärken würde. In Deutschland beriefen sich die kritischen Stimmen vielmehr darauf, dass eine Osterweiterung die Beziehungen zu Russland stören, in der Folge den Aufbau einer gesamteuropäischen Sicherheitsarchitektur behindern und unseren Interessen als Macht in der Mitte Europas zuwiderlaufen würde. Ebenso wurde die Befürchtung geäußert, eine rasche Erweiterung der NATO könnte für die nicht aufgenommenen Kandidaten das Abdriften in ein Sicherheitsvakuum bedeuten.

Bundeskanzler Kohl trug dann jedoch maßgeblich zu dem Signal von Brüssel vom Januar 1994 bei. Die Staats- und Regierungschefs der NATO-Staaten verabschiedeten damals eine Erklärung darüber, dass die Allianz offen für neue Mitglieder ist und keine neuen Trennlinien in die entstehende neue europäische Sicherheitslandschaft schreiben will; zugleich riefen sie das Programm Partnerschaft für den Frieden ins Leben. Die damalige Bundesregierung hat sich daraufhin für eine rasche Aufnahme der Visegrád-Staaten in die NATO ausgesprochen, um die Partnerschaft für den Frieden nicht zu einer Beitrittsverhinderungs-Institution werden zu lassen. Verteidigungsminister Rühe konzentrierte sich in seinen sicherheitspolitischen Konzepten vor allem auf Polen und die Baltischen Staaten, als deren Anwalt er die deutsche Stellung im Bündnis zu stärken suchte. Er wollte sogar schon auf der Tagung des Verteidigungsausschusses der NATO im September 1994 durchsetzen, Beitrittskandidaten zu benennen und einen Fahrplan zur Osterweiterung zu verabschieden. Doch so weit kam es nicht. Nicht nur wurde Rühe von den USA barsch abgemahnt, sondern auch die politische Elite in Deutschland selbst hatte damals keine einheitliche Haltung zur Osterweiterung.

Das betraf nicht nur die Frage des Früher oder Später, sondern es betraf das Prinzipielle. Bundeskanzler Kohl betrachtete die NATO-Osterweiterung allerdings bald schon ausdrücklich als eine aus der deutschen Vergangenheit und dem Europagedanken erwachsende Friedensaufgabe. Schon deshalb nahm Polen in seinen Überlegungen einen vorrangigen Platz ein. Für den Platz des Baltikums und der Ukraine in der europäischen Sicherheitsordnung hingegen entwickelte er keine deutsche Position; denn er wollte Konflikte mit Russland ebenso wie mit den USA vermeiden.

Die jetzigen Regierungsparteien hingen lange der Vision eines Systems Kollektiver Sicherheit für Gesamteuropa nach und sprachen sich gegen jede Stärkung der NATO aus, somit auch gegen ihre Erweiterung. Noch in ihrem Koalitionsvertrag vom September 1998 schrieben die SPD und Bündnis90/Die Grünen fest, dass der Schwerpunkt deutscher Sicherheitspolitik auf der Makro-Ebene liegen solle: Neben der Stärkung der UNO war die Entwicklung der OSZE zu einem System Kollektiver Sicherheit Programm. Wie wir wissen, hat die Regierung ihre Haltung inzwischen aus verschiedenen Gründen verändert.

Dem politischen Grundbekenntnis der rot-grünen Bundesregierung nach soll die NATO der Angelpunkt und die einzige Organisation für kollektive Verteidigung in Europa bleiben. Allerdings ist dieses NATO-Bekenntnis ambivalent. Positiv daran ist, dass damit einer Verwässerung von Artikel 5 des Nordatlantik-Vertrags vorgebaut und eine klare Grenze zwischen der traditionellen Kernfunktion der Allianz und ihrem so genannten Strategic Outreach gezogen wird. Dies auch insofern, als die Bundesregierung dafür plädiert, künftig alle Maßnahmen der Konfliktprävention, der Konsultation und der friedlichen Streitbeilegung vorrangig im Rahmen der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu verfolgen. Negativ daran ist, dass damit die NATO letztlich in ihren konkreten sicherheitspolitischen Funktionen doch gestutzt, ja ins Abseits gestellt wird. Denn das heutige Tagesgeschäft europäischer Sicherheitspolitik besteht nun einmal nicht in der kollektiven Bündnisverteidigung. Dieses Tagesgeschäft aber soll der Vorstellung der Bundesregierung nach nun voll und ganz von der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik übernommen werden, also von der GASP und den in die EU einzugliedernden Funktionen der WEU.

Die Bundesregierung legt auch großen Wert darauf, dass im Rahmen der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik die Instrumente für nicht-militärisches, also auch humanitäres Krisenmanagement ausgebaut werden. So verstanden, kann die Entwicklung einer eigenen europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik durchaus die Perspektive einer tragfähigen und gleichgewichtigeren transatlantischen Partnerschaft eröffnen – zum Beispiel eben dadurch, dass sie auch in der NATO die wichtige Komponente ‚zivile Konfliktbearbeitung‘ stärkt.

In Bezug auf die transatlantische Aufgabenteilung ist eine wichtige Veränderung in der Haltung der Bundesregierung festzustellen. Vor dem Treffen des Europäischen Rats in Berlin im März 1999 verfolgte sie wie ihre Vorgängerin das Konzept des europäischen Pfeilers innerhalb der Allianz, wie es im Juni 1996 auf dem Berliner Treffen des NATO-Ministerrats gebilligt worden war. Europäischer Pfeiler innerhalb der Allianz hieß vor allem: Erstens, dass eine europäische Sicherheitspolitik erst dann aktiv wird, wenn die NATO sich ausdrücklich nicht engagieren will. Zweitens, dass keine neuen sicherheitspolitischen Infrastrukturen und auch keine Konsultations- und Entscheidungsgremien parallel zu denen der Allianz aufgebaut werden. Drittens, dass die Beziehungen Westeuropas zu Russland und zur Ukraine die Chefsache der NATO sind – was bedeutet, dass sie in erster Linie nach den Interessen der USA gestaltet werden.

Auf dem Europäischen Rat in Helsinki im Dezember 1999 ließen die Äußerungen von Bundeskanzler Schröder jedoch erkennen, dass sich die deutsche Regierung das Verhältnis von ESDP und NATO inzwischen anders vorstellt. Die NATO soll nicht nur auf die Funktion der kollektiven Verteidigung und der Vorhaltung militärischer Infrastrukturen beschränkt werden. Auch den im neuen strategischen Konzept der Allianz vom April 1999 festgelegten Funktionen Konsultation, Krisenbewältigung in flexiblen Koalitionen und Partnerschaft maß Schröder keine besondere Bedeutung zu. Vielmehr wies er darauf hin, dass all dies künftig im Rahmen der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik geleistet werden solle.

Inzwischen hat das Auswärtige Amt auch wieder stärker die OSZE als Instrument für ‚zivile‘ Konfliktbearbeitung ins Spiel gebracht, zum Beispiel das im November 1999 auf dem OSZE-Gipfel in Istanbul beschlossene REACT-Programm. Damit hat  ein neues Verwirrungsspiel in den transatlantischen Beziehungen begonnen, da die USA sich bereits auf die ESDP als Schwerpunkt nicht-militärischer Krisenbewältigung eingespielt haben und der amerikanische NATO-Botschafter dieses Konzept kürzlich als Weg auch zu besserer Aufgabenverteilung in der NATO ausdrücklich gelobt hat.

Insgesamt gesehen ist es nach wie vor irreführend, wenn die Bundesregierung gebetsmühlenhaft betont, es gebe in Bezug auf das Verhältnis NATO-ESDP keine Spannungslinien mit den USA. Denn die deutsche Konzeption zur neuen europäischen Sicherheitspolitik und ihren Institutionen betrifft zum Beispiel direkt die Russland-Strategie der USA: Die USA haben das Interesse, Russland als Großmacht und als regionale Ordnungsmacht zu erhalten. Sie setzen auf institutionelle Einbindung Russlands (z.B. durch den NATO-Russland-Rat) und auf gesatzte politische Kooperation mit den GUS-Staaten (vor allem im Euro-Atlantischen Partnerschaftsrat). Diesen ‚Outreach‘ würden sie sich von der EU sicher nicht sang- und klanglos abnehmen lassen.

Hier gibt es übrigens einen wichtigen Bewertungsunterschied zwischen dem Bundeskanzler und dem Verteidigungsminister. Schröder sagte bereits auf der Münchner Konferenz für Sicherheitspolitik im Februar 1999: „Die transatlantische Partnerschaft und die Präsenz der Vereinigten Staaten in Europa bleiben auch in Zukunft Garant für Sicherheit und Stabilität auf unserem Kontinent. Aber so klar das auch ist: Ebenso klar ist eine europäische Sicherheitsarchitektur ohne die Beteiligung Russlands nicht denkbar.“ Er geht also davon aus, dass die Einbindung Russlands künftig nicht über die NATO, vor allem den NATO-Russland-Rat, sondern über die sicherheitspolitisch vertiefte EU erfolgen soll und muss.

Demgegenüber betont Verteidigungsminister Scharping: Die weitere Stärkung guter Nachbarschaft, Vertrauensbildung und enger Zusammenarbeit im zusammenwachsenden Europa könne effektiv nur im Rahmen der Atlantischen Allianz mit ihren weitreichenden Partnerschaftsaktivitäten erfolgen. Die Partnerschaft besonderer Qualität, die die Allianz mit Russland und der Ukraine begonnen hat, müsse in diesem Rahmen bleiben und weiter entwickelt werden. Scharping tritt ausdrücklich dafür ein, eine gegenüber den USA gleichberechtigte europäische Rolle für die Festigung europäischer Sicherheit und die Sicherung des Friedens zu schaffen. Er bezeichnet Amerika und Europa als „natürliche Partner“ für die Durchsetzung der gemeinsamen Werte und Interessen. Wie weit diese Gemeinsamkeiten in der Praxis reichen können, vor allem angesichts der Entwicklung der EU zu einem sicherheitspolitischen Akteur mit eigenen Gremien, sagt er nicht. Nach der funktionalen Einbeziehung der WEU in die EU soll jedoch auch seiner Ansicht nach Krisenmanagement in Europa nur noch unter dem Dach der EU stattfinden. Eine operative und politische Rolle der USA sieht Scharping dabei offenbar nicht. Die Transatlantische Partnerschaft betrachtet er lediglich als Rahmenstrategie für die Verwirklichung von Frieden, Sicherheit und Demokratie im gesamten euro-atlantischen Raum, wobei er nicht sagt, wie weit nach Osteuropa dieser Raum einmal reichen soll.

Es ist überhaupt schwer, aus den Äußerungen der deutschen politischen Elite Einschätzungen darüber herauszuhören, ob und bis zu welcher ‚Grenze‘ man die weitere Osterweiterung der NATO befürwortet oder aktiv unterstützen möchte. Immerhin hat Bundeskanzler Schröder die fortschreitende Öffnung des Bündnisses als „integralen Bestandteil eines umfassenden Ansatzes zur Stärkung von Sicherheit und Stabilität in Europa“ und als Grundkoordinate deutscher Außenpolitik bezeichnet. Dabei bleibe es Maxime, dass im Prozess der Öffnung der NATO keine neuen Gräben in Europa entstehen dürfen. Deutschland hat sich erklärtermaßen besonders dafür eingesetzt, dass die Aufnahme der neuen Mitglieder mit einer Politik der intensiven Kooperation mit allen übrigen Beitrittskandidaten verbunden wird. Wohlgemerkt ist damit in erster Linie nicht die Aufnahme weiterer Mitglieder gemeint, sondern die – wie es heißt – „dynamische und zukunftsorientierte“ Partnerschaft mit Russland und der Ukraine. An diesem Punkt fällt ein Widerspruch zur europapolitischen Position Schröders auf, wonach die Komponenten Partnerschaft und Kooperation künftig im Rahmen der EU und eben nicht der NATO verfolgt werden sollen.

Klar ist jedenfalls: Auch die rot-grüne Außen- und Sicherheitspolitik räumt Russland besonderes Gewicht ein. Innerhalb unserer politischen Elite ist die Einschätzung unstrittig, dass Russland ein wichtiger Partner Deutschlands ist und bleibt, nicht nur in sicherheitspolitischen Fragen. Auf bilateraler Ebene will die Bundesregierung daher alle Möglichkeiten der Zusammenarbeit nutzen und die Abstimmung intensivieren. Ein Prioritätenwechsel etwa zu einer breiter angelegten regionalen Ostpolitik steht damit nicht zu erwarten. Russland gilt als unverzichtbarer Pfeiler einer angestrebten gesamtregionalen Sicherheitsordnung. Im Übrigen hat die Bundesregierung auch darauf hingewiesen, dass die jeweilige russische Einbindung ein Kriterium für die deutsche Beteiligung an Maßnahmen europäischer Friedenssicherung ist. Was die Ukraine angeht, so folgt Deutschland ganz der NATO-Politik des Exports von Sicherheit und demokratischer Stabilität und Verlautbarungen wie: „Das Bündnis wird auch in Zukunft die Entwicklung einer stabilen, unabhängigen Ukraine unterstützen“.

Als Fazit möchte ich festhalten:

Die deutschen Politiker unterschätzen das Spannungsverhältnis zwischen NATO und ESDP und die möglichen Spannungen mit den USA. Der Staatssekretär im Auswärtigen Amt, Wolfgang Ischinger, verkennt die Problematik, wenn er lapidar feststellt: „Die Befürchtungen, Europa könne sich von der NATO und damit von den USA abkoppeln, sind unbegründet und leicht zu entkräften: Die europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik bedeutet [...] keine Konkurrenz zur NATO. Punkt.“

Eine realistischere Sicht der Dinge hat Karsten Voigt, der Koordinator für die deutsch-amerikanische Zusammenarbeit. Er schließt künftig nicht aus, dass zwischen Europa und den USA im Einzelfall nicht nur unterschiedliche Auffassungen, sondern auch Interessenkonflikte und unterschiedliche Wertvorstellungen bestehen werden. Ob die Europäer ihre Interessen zur Geltung bringen könnten, hänge dann auch davon ab, ob sie durch eine gemeinsame Außen- und Verteidigungspolitik außerhalb der NATO und ihrer Führungsmacht USA handlungsfähig sind und dieses Handlungskapital dann auch für andere Politikbereiche nutzen können.

Eines darf man jedenfalls nicht unterbewerten: Nach wie vor gibt es die politisch bedeutsame Angst der USA, Europa könnte eine echte Handlungseinheit bilden, die mit den USA konkurriert und sie in der Durchsetzung ihrer nationalen Interessen behindert. Die USA werden ihre transatlantische Bindung in der gegenwärtigen Stärke und Breite nur so lange aufrechterhalten, wie diese ihnen auch einen direkten Hebel zur Verwirklichung ihrer Eigeninteressen bietet. Die deutsche und die europäische Politik wäre trotz allen angebrachten und notwendigen Denkens in Kategorien der „gleichberechtigten transatlantischen Partnerschaft“ insgesamt gut beraten, die Möglichkeit eines amerikanischen politischen, wirtschaftlichen und militärischen Rückzugs aus Europa nicht zu übersehen und die zentralen Bedingungen für ein fortgesetztes Engagement der USA in Europa zu respektieren. Zu diesen Bedingungen zählt auch der Vorrang des NATO-Rats gegenüber rein europäischen außen- und sicherheitspolitischen Konsultationsforen und Entscheidungsstrukturen.


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