Alexander Siedschlag
Internationale Normen greifen immer mehr auch auf innerstaatliches Handeln durch, und ihre Verletzung dient immer häufiger als ein Tatbestand, der die internationale Intervention in innere Angelegenheiten eines Staates legitimiert. Gleichzeitig nehmen nicht nur Staaten bzw. nationale Regierungen, sondern diverse neue Akteure an der Weiterentwicklung des Völkerrechts teil – von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) über multinationale Unternehmen bis hin zu einzelnen Individuen und Gruppen, zum Beispiel nationalen Minderheiten. Gibt es demzufolge auch neue und neuartige Rechtssubjekte, neben den Staaten und den internationalen Organisationen? Und inwieweit vollzieht sich ein Wandel des Völkerrechts weg vom Recht souveräner Staaten hin zum Gesellschaftsrecht einer globalen Gemeinschaft? Diesen Fragen widmet sich der vorliegende Tagungsband, der vier Abhandlungen (nicht-staatliche Akteure im System der UNO, Rollenwandel des Staates im Völkerrecht, Individuen und Gruppen als Völkerrechtssubjekte, globale Akteure und die Entstaatlichung internationaler Transaktionen) sowie mehrere Kurzinterventionen und die Diskussionsbeiträge vereint.
Für die Politikwissenschaft sehr weiterführend ist der Beitrag von Ruth Wedgwood: NGOs haben das UN-System, was oft übersehen wird, ab seiner Entstehung entscheidend mitgeprägt. Auf ihre Interventionen ist es z.B. zurückzuführen, daß 1945 auf der Konferenz von San Francisco die Verwirklichung Menschenrechte überhaupt als ein Leitziel der UNO festgeschrieben wurde. Darüber hinaus erfüllten und erfüllen sie vor allem unverzichtbare Funktionen bei der soziopolitischen Verwurzelung des UN-Systems. Heute haben sie außerdem eine nicht mehr wegzudenkende treibende Rolle bei der Weiterentwicklung und Neuschaffung internationaler Normen.
Ihre mehr und mehr nicht nur auf eine wohlumgrenzte Klintel bezogene, sondern generalisierte Funktion der Interessenartikulation und selbstbewußten Teilnahme am internationalen politischen Prozeß wirft diverse politisch-rechtliche Probleme auf: die Frage der Legitimität von NGOs, ihr meist 'westlicher' Charakter und missionarischer Anspruch, die Frage der Zurechnung konkreter Verantwortlichkeiten und die Frage des juristischen Status' und der entsprechenden Rechte wie Pflichten nicht-staatlicher politischer Einheiten. Hinter der wachsenden Relevanz und dem zunehmenden Kompetenzanspruch von NGOs verbergen sich – was in allen Beiträgen immer wieder zur Sprache kommt – auch konkrete politische Gefahren: daß nämlich in Konfliktfällen, zum Beispiel bei Minderheitenkonflikten, die traditionelle zwischenstaatliche Ebene und die dortigen Möglichkeiten einer Konfliktregelung von vornherein ausgeblendet werden und der Konflikt durch die direkte Einmischung von NGOs auf eine weltpolitische Ebene gehoben und verschärft wird.
Auf der anderen Seite aber kann – wie Daniel Thürer erläutert - die Devolution weltpolitischer Verantwortung von der Staaten- auf die Gesellschaftswelt Konflikte jedoch auch mäßigen und ein internationales "Sozialmilieu" oder "Ambiente" schaffen, das sachdienliche Lösungen fördert, etwa in den Bereichen Klima- und Umweltschutz. Aber solche Funktionsbeiträge und die sie regelnden Normen erwachsen nicht selbständig aus irgendwelchen objektiven Trends internationaler Vergemeinschaftung. Die Verrechtlichung der internationalen Zivilgesellschaft ist kein Imperativ der Geschichte oder ein automatischer Prozeß, sondern basiert auf bewußten politischen Entscheidungen von Staaten.
Allerdings kommt der kritische Blick auf traditionelle und gleichzeitig hochaktuelle Problemstellungen wie die Legitimität humanitärer Interventionen in dem Band etwas zu kurz, ebenso wie die wichtige Frage, mit welchem Rechtsrahmen sich verhindern läßt, daß staatliche, gesamtgesellschaftlich legitimierte Außenpolitik mit den Privat-Außenpolitiken nicht-staatlicher Akteure in Konflikt gerät oder sogar von ihnen ein Stück weit übertüncht, ja entlegitimiert wird. Was dem Band außerdem fehlt und ihm z.B. auch bei den Politologen die Aufmerksamkeit vorenthalten wird, die er verdient, ist ein konzises Fazit. Dennoch: Vor allem den "Weltgesellschafts"-Forschern in der Politikwissenschaft ist er dringend zur Lektüre zu empfehlen, wie überhaupt die Fächer Völkerrecht und Internationale Politik wieder viel mehr zusammenfinden müssen.