Alexander Siedschlag

Deutschland und die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP)

Beitrag zum Außenpolitischen Symposium "Die euro-atlantischen Beziehungen im Spannungsfeld von Regionalisierung und Globalisierung" der Hanns-Seidel-Stiftung, München, 9.-12. November 2000

Überarbeitet und erweitert veröffentlicht unter dem Titel "Deutschland und die europäische Sicherheitsarchitektur" in: Reinhard C. Meier-Walser/Susanne Luther (Hg.): Europa und die USA. München: Olzog, 2002, S. 114-123.
 

Die Europäische Union kann nunmehr auch militärische Aktionen zur Sicherung und Wiederherstellung des Friedens beschließen und bald in gewissem Umfang selbst durchführen. Der viel beredeten europäischen Sicherheitsidentität sind Zähne gewachsen. Sobald der Europäische Rat einen entsprechenden Beschluss gefasst hat, wird die Union - wie im Vertrag von Nizza (Dezember 2000) festgeschrieben - über eine "Gemeinsame Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik", kurz ESVP, verfügen (dazu Primosch 2000). Darunter ist ein Instrumentarium für Krisenprävention und Krisenmanagement im militärischen und im nicht-militärischen Bereich zu verstehen. Die Union will sich dadurch in die Lage versetzen, "autonom Beschlüsse zu fassen in den Fällen, in denen die NATO als Ganzes nicht einbezogen ist" (Europäischer Rat von Helsinki am 10./11. Dezember 1999, Schlussfolgerung des Vorsitzes, Abschnitt II, Pkt. 27, Auszug in Primosch 2000: 212). Die Schaffung einer europäischen Armee impliziert das ausdrücklich nicht, und es sollen umfassende Regelungen für Zusammenarbeit und Konsultation zwischen der EU und der NATO entwickelt werden.

Auf der Regierungskonferenz von Nizza sind zudem die Entscheidungsbarrieren für eine aktive Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union deutlich gesenkt worden. Die Eingliederung der WEU in die EU hat zwar nicht stattgefunden, doch die schon seit 1993 bestehende Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) umfasst jetzt neben Fragen, die die Sicherheit der Union betreffen, ausdrücklich auch "humanitäre Aufgaben und Rettungseinsätze, friedenserhaltende Aufgaben sowie Kampfeinsätze bei der Krisenbewältigung einschließlich friedensschaffender Maßnahmen" (Artikel 17, Abs. 3 EUV, zitiert nach: Vertrag von Nizza: 4). Darüber hinaus erfordern Beschlüsse zur operativen Durchführung "gemeinsamer Aktionen" nicht mehr Einstimmigkeit, sondern können mit qualifizierter Mehrheit gefasst werden (Art. 23, Abs. 2 EUV). Auch für die Ernennung eines Sonderbeauftragten der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, etwa eines Berichterstatters oder Streitschlichters, ist nur noch ein qualifizierter Mehrheitsbeschluss notwendig (ebd.).

Zwar kann ein einzelner Mitgliedstaat Entscheidungen aus wichtigen Gründen seiner nationalen Politik weiterhin verhindern, doch ist nicht zu verkennen, dass sich die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik auf dem Weg zur Institutionalisierung befindet: Es wurde zum Beispiel ein "Politisches und Sicherheitspolitisches Komitee" geschaffen, das die internationale Lage in den Bereichen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik kontinuierlich verfolgt und "auf Ersuchen des Rates oder von sich aus durch an den Rat gerichtete Stellungnahmen zur Festlegung der Politiken bei[trägt]. Ferner überwacht es die Durchführung vereinbarter Politiken" (Art. 25 EUV). In einer Erklärung zur Sicherheits- und Verteidigungspolitik bekräftigen die EU-Mitgliedstaaten außerdem ihr Ziel, in diesem Bereich "möglichst bald einsatzbereit zu sein" und einen formellen Beschluss über die Einführung der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik "so bald wie möglich im Verlauf des Jahres 2001" zu fassen (zitiert nach: Vertrag von Nizza: 7).

Die ESVP ist kein supranationales Unternehmen, sie nimmt den Mitgliedstaaten keine Souveränitätsrechte und befreit sie somit auch nicht von der Notwendigkeit nationaler Interessendefinition. Vielmehr achtet sie ausdrücklich den Charakter der Sicherheits- und Verteidigungspolitik bestimmter Mitgliedstaaten sowie die sicherheits- und verteidigungspolitischen Verpflichtungen der EU-Mitglieder, die zugleich NATO-Mitglieder sind (Art. 17, Abs. 1 EUV). Mit dem engagierten Eintreten der deutschen Bundesregierung für die Schaffung der ESVP ist gerade auch deshalb die europäische Herausforderung an die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik noch nicht beendet, sondern in der Praxis stellt sie sich jetzt erst recht: Die Partner in EU und NATO, allen voran die USA, werden wissen wollen, wie sich Deutschland seinen aktiven Beitrag zum "harten" Kern der europäischen Sicherheitsarchitektur vorstellt, was es personell, materiell und finanziell zu leisten prinzipiell bereit und gegenwärtig faktisch in der Lage ist und welchen relativen Stellenwert Deutschlands aktives Engagement für die Konsolidierung und Weiterentwicklung der ESVP hat - im Verhältnis zur NATO ebenso wie zum deutschen Engagement im Rahmen der neuen Schnellen Eingreiftruppe der UNO.

Dieser Stellenwert lässt sich nur dann präzise festlegen und glaubhaft politisch artikulieren und begründen, wenn er an einer nationalen Positionsbestimmung festgemacht wird, die auf spezifische nationale Interessen eingeht und die Kriterien angibt, die bei künftigen Entscheidungen darüber zugrunde gelegt werden sollen, ob und in welcher Form Deutschland sich in welchem institutionellen Rahmen an der Sicherung und Wiederherstellung des Friedens in Europa und seinen angrenzenden Regionen beteiligt. Das betrifft zum Beispiel auch die Frage, wie der deutschen Meinung nach das Zugriffsrecht der Europäer auf Kapazitäten der NATO aussehen soll und ob - etwa bei konkurrierenden Interessen von NATO-Mitgliedern, die nicht der EU angehören, und EU-Mitgliedern - erst die NATO oder erst die EU mit ihrer ESVP zum Einsatz kommen soll. Zu all dem erfolgte von deutscher Seite bisher keine klare Stellungnahme.

Vielmehr hingen unsere jetzigen Regierungsparteien lange der Vision eines Systems Kollektiver Sicherheit für Gesamteuropa nach und sprachen sich ursprünglich gegen jede Stärkung der NATO aus, auch gegen ihre Erweiterung. Noch in ihrem Koalitionsvertrag vom September 1998 schrieben die SPD und Bündnis90/Die Grünen fest, dass der Schwerpunkt deutscher Sicherheitspolitik auf der Makro-Ebene liegen solle: Neben der Stärkung der UNO war die Entwicklung der OSZE zu einem System Kollektiver Sicherheit Programm. Wie wir wissen, hat die Regierung ihre Haltung inzwischen aus verschiedenen Gründen verändert, die auch etwas mit dem Realitätsschock "Kosovo" zu tun haben. Dem neuen politischen Grundbekenntnis der Bundesregierung nach soll die NATO auch und gerade nach der Schaffung der Gemeinsamen Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik der Angelpunkt und die einzige Organisation für kollektive Verteidigung in Europa bleiben (z.B. Schröder 2000: 21).

Allerdings ist solch ein verteidigungspolitisches Bekenntnis zur NATO ambivalent (ausführlicher zu dieser Problematik: Sperling 1999). Positiv daran ist, dass damit einer Verwässerung von Artikel 5 des Nordatlantik-Vertrags vorgebaut und eine klare Unterscheidung zwischen den traditionellen Kernfunktionen der Allianz und ihrem so genannten Strategic Outreach (Partnerschaft für den Frieden, Euro-Atlantischer Partnerschaftsrat, NATO-Russland-Rat, NATO-Ukraine Kommission, tragende Beteiligung an SFOR und KFOR) gezogen wird. Dies auch insofern, als die Bundesregierung dafür plädiert, künftig alle Maßnahmen der Konfliktprävention, der Konsultation und der friedlichen Streitbeilegung vorrangig im Rahmen der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik und nicht der NATO zu verfolgen. Negativ daran ist, dass damit die NATO letztlich in ihren politischen Funktionen gestutzt, ja ins Abseits gestellt wird. Denn das Tagesgeschäft europäischer Sicherheitspolitik besteht nun einmal nicht in der kollektiven Bündnisverteidigung. Dieses Tagesgeschäft aber soll der deutschen Vorstellung nach ganz von der ESVP übernommen werden. Vor allem ist es bedenklich, dass das Auswärtige Amt - abgesehen vom buchhalterischen Hinweis auf die Unverzichtbarkeit der NATO für die kollektive Verteidigung und auf ihre Funktion als transatlantische Klammer und allgemeine Wertegemeinschaft - offenbar davon ausgeht, die operative Funktion des Bündnisses werde sich nach der Einführung der ESVP darauf beschränken, sich im "Extremfall an militärischen Aktionen zur Beendigung von Völkermord und humanitären Katastrophen [zu] beteiligen" (Volmer 2000: 21).

Positiv muss man jedoch vermerken, dass die Bundesregierung großen Wert darauf legt, im Rahmen der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik die Instrumente für nicht-militärisches, also auch humanitäres Krisenmanagement auszubauen (ebd.). Und zwar, um der ESVP wirklich einen flexiblen Handlungsrahmen zu verschaffen, der sie nicht zu einer überflüssigen Mini-NATO und einem Dorn im Auge der USA und auch der Briten, Polen und anderer verkommen lässt. Wenn die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik einen flexiblen Ansatz verfolgt, der im regional begrenzten Maßstab das ganze Spektrum der Instrumente zur Krisenprävention, Krisenbewältigung sowie zur Wahrung und Wiederherstellung des Friedens umfasst, kann sie durchaus die Perspektive einer tragfähigen und gleichgewichtigeren transatlantischen Partnerschaft eröffnen - zum Beispiel dadurch, dass sie im Sinn eines europäischen Pfeilers in der NATO (die Partnerschaftsprogramme eingeschlossen) die wichtige Komponente "zivile Konfliktbearbeitung" stärkt. Ebenso im Sinn eines begrüßenswerten flexiblen Ansatzes bemüht sich die deutsche Regierung darum, zu vermeiden, dass im Zuge der Einführung der ESVP die neuen NATO-Mitglieder aus diesem wichtigen Strang der europäischen Sicherheitsordnung ausgegrenzt werden. Sie setzt sich dafür ein, den europäischen NATO-Staaten, die nicht der EU angehören - Polen, Ungarn, Tschechien, Norwegen, Island und Türkei -, angemessene Möglichkeiten der Beteiligung an künftigen von der EU geführten militärischen Operationen einzuräumen (Schröder 1999c: 807, 2000: 22).

Das sind wiederum innereuropäische Fragen. Was ergibt jedoch ein genauerer Blick auf die deutsche Haltung zur transatlantischen Aufgabenteilung, für die die ESVP auf jeden Fall eine Gewichtsverschiebung und die Notwendigkeit einer Neuaustarierung bedeutet? Hier hat in den letzten zwei Jahren ein wichtiger Wandel stattgefunden (Siedschlag 2000: 150-155). Anfangs und bis über die Mitte des Jahres 1999 hinaus verfolgte die rot-grüne Bundesregierung wie ihre Vorgängerin das Konzept des europäischen Pfeilers innerhalb der Allianz, wie es im Juni 1996 auf dem Berliner Treffen des NATO-Ministerrats gebilligt worden ist.

Europäischer Pfeiler innerhalb der Allianz heißt vor allem: Erstens, dass eine europäische Sicherheitspolitik erst dann aktiv wird, wenn die NATO sich ausdrücklich nicht engagieren will; zweitens, dass keine neuen sicherheitspolitischen Infrastrukturen und auch keine Konsultations- und Entscheidungsgremien parallel zu denen der Allianz aufgebaut werden; drittens, dass die Beziehungen Westeuropas zu Russland und zur Ukraine die Chefsache der NATO sind - was bedeutet, dass sie in erster Linie nach den Interessen der USA gestaltet werden. Im Rahmen des Europäischen Rats in Helsinki im Dezember 1999 ließen die Äußerungen von Bundeskanzler Schröder jedoch erkennen, dass sich die deutsche Regierung das Verhältnis von ESVP und NATO inzwischen anders vorstellt (vgl. Schröder 1999c: 807). Nicht nur soll die NATO auf die Funktion der kollektiven Verteidigung und der Vorhaltung militärischer Infrastrukturen beschränkt werden. Auch den im neuen strategischen Konzept der NATO vom April 1999 festgelegten Funktionen Konsultation, Krisenbewältigung in flexiblen Koalitionen und Partnerschaft maß Schröder keine besondere Bedeutung zu. Vielmehr wies er darauf hin, dass all dies künftig im Rahmen der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik geleistet werden solle.

Inzwischen hat das Auswärtige Amt darüber hinaus wieder stärker die OSZE als Instrument für zivile Konfliktbearbeitung ins Spiel gebracht und sich zu einem Vorreiter bei der Implementierung des REACT-Programms erklärt, das im November 1999 auf dem OSZE-Gipfel in Istanbul beschlossen worden ist. Das REACT Programm bezieht sich auf die Schaffung von zivilen Krisenreaktionskräften (Rapid Expert Action Teams) und die Stärkung der operativen Fähigkeiten des OSZE-Sekretariats. Damit hat sich Deutschland in einen politischen Erklärungszwang manövriert:

Will es darauf hinarbeiten, im Rahmen der EU und ihrer ESVP die zivile Komponente der Krisenbewältigung zu stärken und in diesem Sinn einen funktionsspezifischen europäischen NATO-Pfeiler zu schaffen, oder taucht wieder das alte sozialdemokratische Gespenst der "Gemeinsamen Sicherheit" in und für "Gesamteuropa" auf, jenseits der internationalen Organisationen NATO und EU? Nämlich im Rahmen der OSZE, die anders als es in ihrem Namensschild steht keine internationale Organisation ist, sondern ein Forum, wenngleich mit einer eigenen Exekutivbürokratie und teils permanenten politischen Konsultationsgremien (zur OSZE siehe Bothe/Ronzitti/Rosas 1997). Offenbar möchte die Bundesregierung die fragwürdige Festlegung aus dem Koalitionsvertrag von 1998 nun doch umsetzen, wonach die "Aufgaben der NATO jenseits der Bündnisverteidigung an die Normen und Standards von UN und OSZE" gebunden werden sollen.

Dieser Ansatz verkennt zweierlei: Erstens, dass die OSZE völkerrechtlich eben keine internationale Organisation darstellt und deswegen, abgesehen von ihren speziellen eigenen Krisenmechanismen, keinen völkerrechtlich verbindlichen Normenkatalog beinhaltet, an dem sich die Mechanismen und Entscheidungen anderer internationaler oder auch nur europäischer Sicherheitsinstitutionen messen ließen; zweitens, dass sich die OSZE immer mehr in eine (begrüßenswerte) funktionsgebundene Sicherheitsrolle hineinentwickelt hat, vor allem im Bereich des Monitoring und der Konfliktprävention.

Bei aller Relevanz und Leistung der OSZE steht somit fest: Sie wird nicht den Angelpunkt bilden können, an den sich die Gravitationszentren europäischer Sicherheit hängen lassen. Gleichwohl hat das Auswärtige Amt im Jahr 2000 ein Konzept entwickelt, demzufolge in der OSZE die "drei großen politischen Gravitationszentren" zusammenwirken sollen: die Europäische Union, die USA und Russland (Ischinger 2000b: 44). Ähnlich realitätsfremde und nicht nur europapolitisch ungesunde Visionen hatte schon zuvor Bundeskanzler Schröder geäußert:

"Bei der Gestaltung gesamteuropäischer Sicherheit müssen wir das Potenzial der OSZE auch in Zukunft nutzen und, wo möglich, weiterentwickeln. Vor wenigen Tagen erst haben wir in Istanbul eine Sicherheitscharta der OSZE gezeichnet, die die Grundlagen einer umfassenden und unteilbaren Sicherheitsordnung zwischen Vancouver und Wladiwostok manifestiert. Sie markiert einen großen Fortschritt auf dem Weg zu einer 'Kultur der Prävention', die der Generalsekretär der Vereinten Nationen, Kofi Annan, mit ähnlichen Worten gefordert hat." (Schröder 1999b: 787)

Die OSZE in die Rolle des Kerns einer gesamteuropäischen Sicherheitsordnung zu zwingen, würde die sich nunmehr endlich abzeichnende Funktionsteilung zwischen den europäischen Sicherheitsinstitutionen behindern, was nicht im deutschen Interesse liegen kann. Falls Deutschland diesen Ansatz ernsthaft verfolgt, wird es darüber hinaus ein neues Verwirrspiel in den transatlantischen Beziehungen auslösen, da die USA sich bereits auf die ESVP als möglichen künftigen Schwerpunkt nicht-militärischer Krisenbewältigung im Rahmen transatlantischer Sicherheitspolitik eingespielt haben und der amerikanische Botschafter bei der EU dieses Konzept als Weg auch zu besserer Aufgabenverteilung in der NATO ausdrücklich gelobt hat (siehe Morningstar 2000). Die USA unterstützen inzwischen zwar das REACT-Programm und wollen die OSZE-Aktivitäten auf dem Balkan stärken. Dabei setzen sie allerdings gerade auf keine eigenständige Rolle der OSZE, sondern auf einen Ausbau der Kooperation zwischen OSZE und EU. Dies vermutlich insbesondere, um über die OSZE ihren Fuß in der Tür zur ESVP zu behalten und möglicherweise ihr Engagement in Südosteuropa immer mehr auf die Europäer abwälzen zu können, wie das Außenminister Colin Powell und Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice bereits angedeutet haben.

Die angesprochenen Problemkreise zeigen, dass es irreführend ist und den Herausforderungen an die deutsche Sicherheitspolitik in der neuen Ära der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU in keiner Weise entspricht, wenn die Bundesregierung gebetsmühlenhaft betont, es gebe in Bezug auf das Verhältnis NATO-ESVP keine Spannungslinien, vor allem nicht mit den USA. Denn die deutschen Vorstellungen zur europäischen Sicherheitsarchitektur und ihrer Weiterentwicklung betreffen unter anderem direkt die amerikanische Russland-Strategie: Die USA setzen auf institutionelle Einbindung Russlands (zum Beispiel durch den NATO-Russland-Rat) und auf gesatzte politische Kooperation mit den GUS-Staaten (vor allem im Euro-Atlantischen Partnerschaftsrat). Diesen Outreach würden sie sich von der EU sicher nicht sang- und klanglos abnehmen lassen. Doch Bundeskanzler Schröder sagte bereits auf der 35. Münchner Konferenz für Sicherheitspolitik im Februar 1999 in seiner Rede zur Ausgestaltung der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik:

"Die transatlantische Partnerschaft und die Präsenz der Vereinigten Staaten in Europa bleiben auch in Zukunft Garant für Sicherheit und Stabilität auf unserem Kontinent. Aber so klar das auch ist: Ebenso klar ist eine europäische Sicherheitsarchitektur ohne die Beteiligung Russlands nicht denkbar." (Schröder 1999a: 91)

Er geht eher davon aus, dass die Einbindung Russlands und die "Friedenspartnerschaft mit Russland" (ebd.) künftig nicht über die NATO, sondern über die sicherheitspolitisch vertiefte EU erfolgen soll und muss. Wenn das wirklich die deutsche Politik ist, dann stehen die transatlantische Partnerschaft und ihr Fundament, die NATO, umso mehr in der Gefahr, zu einem bloßen Rahmenkonzept für die Verwirklichung von Frieden, Sicherheit und Demokratie im europäisch-atlantischen Raum zu werden.

Doch nicht einmal die Inhalte und die Reichweite solch eines Rahmenkonzepts hat die deutsche Politik bislang geklärt. Es ist zum Beispiel schwer, herauszuhören, ob und bis zu welcher "Grenze" man die weitere Osterweiterung der NATO befürwortet oder aktiv unterstützen möchte. Immerhin hat Bundeskanzler Schröder die fortschreitende Öffnung des atlantischen Bündnisses als "integralen Bestandteil eines umfassenden Ansatzes zur Stärkung von Sicherheit und Stabilität in Europa" und als eine Grundkoordinate deutscher Außenpolitik bezeichnet (Schröder 1999b: 787, vgl. auch 2000: 23). Dabei bleibe es Maxime, dass im Prozess der Öffnung der NATO keine neuen Gräben in Europa entstehen dürfen. Deutschland hat sich besonders dafür eingesetzt, dass die Aufnahme der drei neuen Mitglieder Polen, Tschechien und Ungarn mit einer Politik der intensiven Kooperation mit allen übrigen Beitrittskandidaten und darüber hinaus verbunden wurde. Eine wichtige Rolle spielt dabei die - wie es heißt - "dynamische und zukunftsorientierte" Partnerschaft mit Russland und der Ukraine. Wie die neueste Entwicklung zeigt, geht die Bundesregierung diese Partnerschaft allerdings eher bilateral als multilateral an. Klar ist jedenfalls: Die rot-grüne Außen- und Sicherheitspolitik räumt Russland besonderes Gewicht in der europäischen Sicherheitsarchitektur ein, und das entspricht ja durchaus den realpolitischen Verhältnissen und Erfordernissen. Innerhalb unserer politischen Elite gilt Russland außerdem als ein unverzichtbarer Pfeiler der europäischen Sicherheitsarchitektur.

Jedoch wird gerade auch angesichts der deutschen Russland-Strategie deutlich: Die derzeitige deutsche Politik unterschätzt in der Regel das Spannungsverhältnis zwischen NATO und ESVP und die möglichen Spannungen mit den USA. Der damalige Staatssekretär im Auswärtigen Amt, Wolfgang Ischinger, verkannte die Problematik, wenn er im April 2000 lapidar feststellte: "Die Befürchtungen, Europa könne sich von der NATO und damit von den USA abkoppeln, sind unbegründet und leicht zu entkräften: Die europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik bedeutet [...] keine Konkurrenz zur NATO. Punkt." (Ischinger 2000a: 17) Eine realistischere Sicht der Dinge hat Karsten Voigt, der Koordinator für die deutsch-amerikanische Zusammenarbeit (siehe Voigt 1999, 2000). Er schloss schon vor zwei Jahren nicht aus, dass zwischen Europa und den USA im Einzelfall nicht nur unterschiedliche Auffassungen, sondern auch Interessenkonflikte und unterschiedliche Wertvorstellungen bestehen werden. Ob die Europäer ihre Interessen zur Geltung bringen könnten, hänge dann auch davon ab, ob sie durch eine gemeinsame Sicherheitspolitik außerhalb der NATO und ihrer Führungsmacht USA in gewissem Umfang selbstständig handlungsfähig sind und dieses Handlungskapital dann auch in anderen Politikbereichen in die Waagschale werfen können.

Eines darf man dabei gleichwohl nicht unterbewerten: Die nach wie vor politisch bedeutsame Angst der USA, "Europa" könnte verstärkt Eigenidentität gewinnen und eine echte Handlungseinheit bilden, die mit den USA konkurriert, sie in der Durchsetzung ihrer nationalen Interessen behindert und zugleich die NATO hemmt (z.B. Van Ham 2000). Die USA werden ihre transatlantische Bindung in der gegenwärtigen Stärke und Breite nur so lange aufrechterhalten, wie diese ihnen unter anderem auch einen direkten Hebel zur Verwirklichung ihrer Eigeninteressen bietet. Die deutsche und die europäische Politik wären trotz allen angebrachten Denkens in Kategorien der "gleichberechtigten transatlantischen Partnerschaft" insgesamt gut beraten, die Gefahr eines zumindest sicherheits- und verteidigungspolitischen Rückzugs der USA aus Europa nicht zu übersehen und die zentralen amerikanischen Bedingungen für ein fortgesetztes Engagement in Europa zu respektieren. Dazu zählt auch der Vorrang des NATO-Rats gegenüber rein europäischen außen- und sicherheitspolitischen Konsultationsforen und Entscheidungsstrukturen. Die USA sind auch eine europäische Macht und betrachten sich selbst ausdrücklich als solche. Wie die nicht abreißenden Presseerklärungen des NATO-Generalsekretärs zur NATO als Sinnbild der transatlantischen Verbindung zeigen, ist es bisher nicht gelungen, die in den USA bestehende Befürchtung zu zerstreuen, einzelne Staaten der EU könnten die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik dazu nutzen, die NATO oder die USA zu marginalisieren.

Demzufolge muss man mit der neorealistischen Schule der internationalen Politik (z.B. Link 1998; Waltz 1993) sagen: Es gibt in der neuen, multipolaren Konstellation in Europa und der Welt viele Gelegenheiten, außenpolitische Fehler zu machen, und es gibt zu wenig kompetente und anerkannte Akteure, um diese Fehler wieder gutzumachen. Auch die Definition nationaler Interessen (auch der nationalen Interessen in und an internationalen Organisationen und Bündnissen) wird immer schwieriger. Mangelnde nationale Interessendefinition und schwammige Selbstbeschreibungen internationaler Organisationen jedoch machen die internationale Politik nicht gerade berechenbarer. Unter diesen Umständen wird sich die Bereitschaft der Staaten verringern, dauerhafte Selbstbindung einzugehen und sich aktiv für stabile Kooperation und den Ausbau internationaler Integration einzusetzen. Auf der anderen Seite sollte Außen- und Sicherheitspolitik unter diesen Bedingungen jede Selbstüberforderung vermeiden, sondern sich realistische Zielvorgaben setzen. Was seinen Beitrag zur europäischen Sicherheitsarchitektur angeht, tut Deutschland das im Moment nicht. Vielmehr hat es sich mit den neu übernommenen sicherheits- und verteidigungspolitischen Verpflichtungen sowohl in einen potenziellen politischen Widerspruch und Wertekonflikt als auch in eine materielle Selbstüberforderung manövriert (zum Folgenden: IAP-Dienst Sicherheitspolitik 2000: 3).

Die Bundesregierung hat nicht nur die Einführung der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik maßgeblich vorangetrieben und stellt gemäß den Brüsseler Vereinbarungen der Außen- und Verteidigungsminister der Europäischen Union vom 20. November 2000 mit 18 000 Mann das größte Streitkräftekontingent für die insgesamt 60 000 Soldaten starke Schnelle Eingreiftruppe der EU, die bis Anfang 2003 einsatzbereit sein soll. Am selben Tag hat Verteidigungsminister Scharping in New York ein Abkommen zwischen Deutschland und der UNO unterzeichnet, welches vorsieht, dass sich Deutschland ab sofort am Standby Arrangements System der UNO beteiligt, d.h. für UN-Einsätze zur Wahrung und Wiederherstellung des Friedens und der internationalen Sicherheit ein militärisches Eingreifkontingent mit Flugzeugen, Hubschraubern, Minenräumern, Seeaufklärern, Logistikern, Fernmeldern und Sanitätern zur Verfügung stellt. Dieses Kontingent muss so trainiert und ausgerüstet sein, dass es innerhalb von 15-30 Tagen an den jeweiligen Einsatzort verlegen kann.

Angesichts der Verkleinerung der Bundeswehr ist unklar, woher diese Truppenkontingente und die erforderlichen finanziellen Mittel kommen sollen; denn schon heute hat die Bundeswehr Probleme, ihre Personalstärke von ca. 8000 Mann in Bosnien und Herzegowina (SFOR) und im Kosovo (KFOR) zu halten. Ein Ende dieser beiden Einsätze, die außerdem den Verteidigungshaushalt pro Jahr mit insgesamt ca. 2 Milliarden Mark belasten, ist noch nicht absehbar. Darüber hinaus hat Deutschland beträchtliche Schwierigkeiten, die erforderlichen Finanzmittel für die Beteiligung an der Defense Capabilities Initiative (DCI) der NATO aufzubringen und verfügt zudem nicht über das Geld für die Beschaffung neuer Transportflugzeuge, die es aber benötigt, um seine Zusagen für den Aufbau einer Transportkomponente der ESVP zu erfüllen.

Doch auch politisch ist Deutschland bzw. seine Elite noch nicht "reif für die Weltpolitik", vor allem auch nicht für die verstärkte Zusammenarbeit mit den europäischen Partnern bei der internationalen Friedenssicherung und der sicherheitspolitischen Verantwortung der neuen EU (vgl. WeltTrends/Instytut Zachodni 2000): Das Handeln unserer außenpolitischen Elite erscheint in weiten Teilen geprägt durch die Grundsätze des Vergangenen, der westdeutschen Nachkriegspolitik und ihrer Axiomatik der Westbindung und des Multilateralismus, die die Benennung nationaler Interessen und deutliche Positionsbestimmungen jenseits des moralischen Universalismus weitgehend vermied. Erforderlich ist aber nun umso mehr eine zeitgerechte und zukunftsorientierte Sicherheitspolitik (Thiele/Seidt 1999). Deutschland hat - und hier gilt tatsächlich die Gegenwart der Vergangenheit - ein fundamentales objektives Interesse daran, zur Wahrung und Weiterentwicklung des integrativen und kooperativen Gleichgewichts in der europäisch-atlantischen Konstellation aktiv beizutragen (Link 2000: 30). Das moralpolitische Leitbild von Deutschland als neuem Friedensstifter, der in allen internationalen Organisationen gleichzeitig am Wohle der Welt arbeitet, ist dem nicht zuträglich.
 
 

Literatur

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IAP-Dienst Sicherheitspolitik (2000). Bonn: IAP Publizistische Gesellschaft für Politik und Zeitgeschehen mbH, Nr. 12.

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Ischinger, Wolfgang (2000b): Die OSZE im europäischen Konzert, in: OSZE-Jahrbuch 2000. Baden-Baden: Nomos, S. 39-44.

Link, Werner (1998): Die Neuordnung der Weltpolitik. München: Beck.

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Morningstar, Richard (2000): Europäische Verteidigung: Ende des Bündnisses oder neue Partnerschaft? Rede des US-Botschafters bei der EU, Richard Morningstar, vom 13. Oktober 2000, in: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (Hg.): Stichworte zur Sicherheitspolitik, Nr. 10, S. 9-12.

Primosch, Edmund G. (2000): Europäischer Rat von Helsinki: Vorgaben für das EU-Krisenmanagement, in: Österreichische Militärische Zeitschrift 38, Nr. 2, S. 212-216.

Schröder, Gerhard (1999a): Ausgestaltung einer Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Rede von Bundeskanzler Gerhard Schröder auf der XXXV. Münchner Konferenz für Sicherheitspolitik am 6. Februar 1999 in München, in: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (Hg.): Bulletin, Nr. 8, 22. Februar, S. 89-91.

Schröder, Gerhard (1999b): Die Grundkoordinaten deutscher Außenpolitik sind unverändert: Frieden und Sicherheit und stabiles Umfeld für Wohlstand festigen. Rede von Bundeskanzler Gerhard Schröder bei der 37. Kommandeurstagung der Bundeswehr in Hamburg (CCH) am 29. November 1999, in: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (Hg.): Bulletin, Nr. 83, S. 785-789.

Schröder, Gerhard (1999c): Regierungserklärung von Bundeskanzler Gerhard Schröder zum bevorstehenden Europäischen Rat in Helsinki am 10./11. Dezember 1999 vor dem Deutschen Bundestag am 3. Dezember 1999, in: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (Hg.): Bulletin, Nr. 85, S. 805-808.

Schröder, Gerhard (2000): Ansprache von Bundeskanzler Gerhard Schröder vor der Parlamentarischen Versammlung der NATO anlässlich ihrer 46. Jahrestagung am 21. November 2000 in Berlin, in: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (Hg.): Stichworte zur Sicherheitspolitik, Nr. 11, S. 20-23.

Siedschlag, Alexander (2000): Zwischen gezähmter Macht und gefordertem Engagement - Die Außen- und Sicherheitspolitik des vereinten Deutschland in ihrer ersten Dekade, in: Gegenwartskunde 49, Nr. 2, S. 143-156.

Sperling, James (Hg. 1999): Two tiers or two speeds? The European security order and the enlargement of the European Union and NATO. Manchester/New York: Manchester University Press.

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WeltTrends e.V./Instytut Zachodni (Hg. 2000): WeltTrends. Zeitschrift für internationale Politik und vergleichende Studien, Nr. 28.
 

28. Januar 2001


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