Alexander Siedschlag

Politische Institutionalisierung und Konflikttransformation
Leitideen, Theoriemodelle und europäische Praxisfälle
(Überarbeitete Fassung der Habilitationsschrift, Humboldt-Universität zu Berlin, WS 1999/2000.)
Opladen: Leske + Budrich, 2000
494 S., zahlr. Abb., 88,- DM
ISBN 3-8100-2633-6

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In der Politik im neuen Europa spielt die Vertiefung und Ausweitung demokratischer Institutionen auf der nationalen wie auf der internationalen Ebene eine wichtige Rolle. Welche Voraussetzungen müssen aber erfüllt sein, damit Institutionen politischen Konflikt wirksam regeln und Konfliktverbreitung verhindern können? Dieses Buch erarbeitet den bisherigen Wissensstand dazu und prüft bzw. ergänzt ihn anhand aktueller politischer Konfliktformationen in Europa, von der ethnonationalen bis zur gesamtregionalen Dimension. 

AUS DEM INHALT
  1. Neoinstitutionalistische Konzeptionen von Konflikt und Konfliktregelung
  2. Konflikttheoretische Präzisierungen, Praxisverfahren und Institutionalisierung als Konflikttransformation
  3. Fallstudien zu politischer Konfliktregelung in Europa
  4. Institutionalisierungsstrategien der politischen Konfliktregelung: Anwendungsprinzipien, Bestandteile und Erfolgsvoraussetzungen

Leitthema der Untersuchung sind die Voraussetzungen, Strategien und (intendierten ebenso wie nicht-intendierten) Folgen kooperativer Konfliktregelung durch Institutionalisierung. Institutionalisierung interessiert als Weg zu meliorativer Konflikttransformation - und damit nicht nur zu Konfliktbearbeitung und Problemlösung in Einzelfällen, sondern vor allem zu verbesserter genereller Konfliktkompetenz (zum Beispiel einem gemeinsamen Grundverständnis von und über Konflikt, gemeinsamen Regelungsideen und entsprechenden gemeinsamen Praxisverfahren sowie geschulter Kompromißfähigkeit). Was bedeutet Institutionalisierung als politische Konfliktstrategie und auch als Analyseperspektive konkret, was sind ihre Praxisverfahren, Erfolgsbedingungen, Nebenwirkungen und Gegenanzeigen, für welche Typen von Konflikt und für welche Anwendungsfenster erscheint sie besonders geeignet, für welche weniger? Um das zu beantworten, wird das erreichbare theoretisch-methodische Repertoire für kooperative Konfliktregelung durch Institutionalisierung dargestellt, für die Konfliktanalyse wie für die Fragen von politischer Konfliktstrategie erschlossen und an europäischen Praxisfällen durchdekliniert.

Dabei ergibt sich zunächst: Institutionalisierung als politische Institutionalisierung bedeutet die Umsetzung einer jeweils bestimmten Regelungsordnung mit bestimmten Leitideen und Prinzipien. Das Besondere am Prozeß politischer Institutionalisierung ist, daß er im Grundsatz kein interaktionszentrierter Institutionalisierungsmodus, keine "Evolution der Kooperation" (Robert Axelrod) ist, sondern daß es um die Geltungsvermittlung kollektiver Entscheidungssysteme geht, um die Umsetzung von vereinbarten Prinzipien und die Schaffung von gemeinsamen Problemlösungsarenen. Politische Institutionalisierung formt sich keine Wirkkontexte, sondern sie bedarf existierender: Leitideen, Prinzipen und politische Normen als solche kann man nicht institutionalisieren; sie sind vielmehr die Voraussetzung für Institutionalisierung. Institutionalisierung, insbesondere als Konfliktstrategie, ist deswegen weder wesentlich gut noch schlecht, weil der Institutionalisierungsprozeß als solcher nichts Hinreichendes über die zugrundeliegenden Leitideen, Prinzipien und Normen aussagt.

Als gemeinsamer Nenner über die Vielzahl neo-/institutionalistischer Theoriebeiträge hinweg lassen sich fünf Komponenten politischer Institutionalisierung festhalten. Zunächst die Herstellung typischer Handlungskontexte (Erwartungsverläßlichkeit, Luhmannsche "Erwartungserwartungen" und Reziprozitätsnormen), typischer Handlungen (gemeinsame Verfahrensweisen) und typischer Akteure. Es zeigt sich aber, daß politische Institutionalisierung als Konfliktstrategie zwei weitere Komponenten erfordert - einen Wirkmechanismus und einen Reproduktionsmechanismus der kooperativen Konfliktregelung. Wirkmechanismus vor allem im Sinn einer doppelten Übersetzungsleistung: der repräsentativen Abbildung des Konflikts in den Regelungskontext und der Rückübersetzung der dort erzielten Ergebnisse in den realpolitischen Prozeß. Reproduktionsmechanismus besonders, was die politische Anschlußfähigkeit der Konfliktregelungsleistung und ihrer Leitideen angeht.

Ihren jeweiligen Leitideen nach verlaufen kann Institutionalisierung nur dann, wenn einerseits die darin angelegten Akteurstypengruppen real vorhanden und ansprechbar sind und wenn die Konflikte andererseits regelmäßig auftreten. Wiederkehrende Konflikte sind keine Hemmnisse, sondern entscheidende Ansatzpunkte für Institutionalisierung - Institutionalisierung bedarf des Weiterlaufens von Konflikt. Deswegen gehört es zu Institutionalisierung als Konfliktstrategie, kontinuierlich zu prüfen, inwieweit ihre Funktionsvoraussetzungen noch gegeben sind und die Repräsentation des Konflikts noch den Realitäten entspricht.

Es läßt sich eine Reihe allgemeiner Anwendungsprinzipienbzw. Erfolgsvoraussetzungen politischer Institutionalisierungsstrategien der Konfliktregelung beschreiben:

  1. Die Grundlage sollte immer eine institutionalistische Konfliktanalyse sein: eine politische Landschaftsbestimmung des jeweiligen Konflikts und die Frage nach einer zugrundeliegenden Konfliktformation (zum Beispiel vorhandene Institutionalisierungen, Ausstrahlungseffekte des Konflikts oder politische Erzählungen über den Konflikt). Gegenstand der Regelungsversuche sollte die zugrundeliegende Konfliktformation sein, nicht nur ihre episodischen Manifestierungen.

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  3. Die Wirkung von Institutionen und die Möglichkeit von Institutionalisierung sind an geeignete Trägerakteure gebunden. Es reicht nicht, Arenen zu bauen; es bedarf auch interessierter und befähigter Akteure, um die Spannung zwischen Normexistenz und Normgeltung zu überbrücken.

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  5. Ebenso wichtig ist gute Passung zu bereits bestehenden Institutionalisierungen. Die Passung zwischen Konfliktformationen und Regelungsmechanismen sowie die Interpretations- und Vermittlungssicherheit von Regelungskonzepten sind wichtiger als ihr streng zweckrationaler Zuschnitt.

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  7. Institutionalisierung wird mit steigender Krisenhaftigkeit des Konflikts immer weniger anwendbar, weil politische Krisenentscheidungen und Interventionen in krisenhafte Konfliktprozesse nicht auf viel mehr abzielen können als auf punktuelle Eingriffe.

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  9. Stets zu beachten ist der Aspekt der reflexiven Institutionalisierung, der sich auf Förderfaktoren und Reproduktionsstabilität der Regelung bezieht. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, reflexive Institutionalisierung zu erreichen. Eine davon sind avantgardistische Akteure, die den anderen die Möglichkeit und die Regeln dauerhafter Kooperation politisch vorspielen.
Es haben sich Argumente gegen zwei auch immer wieder politisch befürwortete Institutionalisierungsstrategien bei ethnopolitischen Konflikten ergeben: die Kultivierung einer Zivilgesellschaft und die Einordnung in ein gesamtregionales Minderheitenregime. In Estland und Lettland würde das aufgrund besonderer Pfadabhängigkeiten erwartbar zu pejorativen Transformationen führen. Dies unter anderem deshalb, weil die Problematik mit der Problematik der politischen Institutionalisierung von Eigenidentität im Rahmen von Nation Building verquickt ist, die sich sowohl auf die Landesnationalitäten als auch auf die ethnischen Russen bezieht und mit einem Demokratisierungsprozeß zusammenfällt.

In einem anderen Zusammenhang, der Institutionalisierung konfliktstabiler und konfliktfähiger Demokratie, wird die Schwierigkeit transferorientierten Institutionendesigns deutlich. Solch ein Institutionalisierungsmodus steht in der Gefahr, zu konfliktverschärfender Überinstitutionalisierung zu führen. Zum Beispiel in Form durchaus starker Normgeltung, jedoch ohne ihren Prinzipien folgende Funktionalität - insofern sie etwa maßgeblich von den Stimmungslagen einzelner Spitzenakteure oder von Interessenkartellen abhängig ist, die ihre eigenen Prinzipien einführen.

Hier ist besonders gut ersichtlich, was auch allgemeiner gilt: Politische Institutionalisierung, namentlich durch Institutionentransfer, benötigt passende Akteurstypen, in spezifische Regelungskontexte übersetzbare Konflikte und geeignete politisch-gesellschaftliche Übersetzungsstrukturen, ebenso wie eine angemessene Repräsentation der Konflikte in der jeweiligen institutionellen Regelungsarena. Sonst führt Institutionalisiertheit der Konfliktregelungsversuche erwartbar, zumal wenn eingespielte gemeinsame Verfahrensrepertoires noch weitgehend fehlen, zu in ihrer Wirkung schlecht abzusehenden Symbolressourcen des Konfliktaustrags und fortgesetzt zu Konfliktkapitalbildung statt zu meliorativer Transformation. Mit solcher Konfliktinduktion durch Institutionalisierung ist aber auch dann zu rechnen, wenn im Rahmen von Institutionalisierungsprozessen eingespielte Funktionsbezüge verwischt oder durch neue überlagert werden. Das führt zu Prinzipienkonflikten oder ebenfalls zu Konfliktkapitalbildung, wie es beides innerhalb des Visegrád-Prozesses zu beobachten war.

Über alle betrachteten europäischen Praxisfälle hinweg, insbesondere jedoch im Fall der politischen Institutionalisierung eines Gesamteuropas (im OSZE-Rahmen) ist klar geworden, daß gegebene politische Realitäten und politische Erbschaften viel eher Pfade für Institutionalisierungspolitiken vorzeichnen, als das gemeinsame Leitideen oder problemfunktionale Zuschnitte tun. Insgesamt hat sich gezeigt, daß kooperative Konfliktregelung durch Institutionalisierung, wenn sie politisch nachhaltig zum Durchbruch kommt, eine zugleich starke und sensible Strategie ist. Sie führt zu merklichen und beharrenden Akteurstypenbindungen, Pfadprägungen und Konflikttransformationen, aber der Toleranzbereich, in dem all das den intendierten Effekten entspricht, erweist sich immer wieder als recht eng.
 
 

Weiterführende Hinweise:

Neoinstitutionalismus als Konfliktstrategie - Möglichkeiten und Grenzen von Institutionalisierungsverfahren der politischen Konfliktregelung. Arbeitspapier, Humboldt-Universität zu Berlin, Juni 2002.

Political Institutionalization and Conflict Management in the New Europe - Path-Shaping for
the Better or Worse? Arbeitspapier für die 97. Jahrestagung der American Political Science
Association (APSA), San Francisco, 30. August - 2. September 2001.

Institutionalization and Conflict Management in the New Europe. Arbeitspapier für den 18. Weltkongreß der International Political Science Organization, Quebec City, Kanada, 1.-5. August 2000.


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