Handreichung: E-Learning im Fach Internationale Politik

 

Alexander Siedschlag
unter Mitarbeit von Dorothea Winckler

 

erscheint auch im Innsbruck Forum on International Relations (IFIR) 

 

 

 

E-Learning als Komponente von Blended Learning

 

E-Learning ist inzwischen ein Sammelbegriff für unterschiedliche Konzepte netz- und computergestützter Wissensvermittlung. Die Grundidee von E-Learning ist, mit Hilfe moderner Informations- und Kommunikationstechnologien Wissen und Bildung schneller, effektiver und weitgreifender zu verbreiten als mit konventionellen didaktischen Methoden. Zugleich gilt E-Learning mitunter als eine Form von Aktionslernen, in dessen Zuge Wissensvermittlung über geographische Grenzen hinweg funktioniert und gemeinsames Lernen zur Entstehung von Friedenswissen, Toleranz und Konfliktfähigkeit beitragen soll. Darüber hinaus beinhaltet E-Learning mitunter ein neues Paradigma der Wissensvermittlung: nämlich eine so genannte konstruktivistische Didaktik, die die Lernenden aktiv in den Prozess der Auswahl, der Kanonisierung und der Weitergabe von Wissen sowie der Erschließung von realen Anwendungsformen des Erlernten einbezieht. 

 

Die Konzeption computer- und netzgestützten Lernens geht inzwischen aber bereits über E-Learning hinaus in Richtung auf Advanced Distributed Learning (ADL). Hinter ADL steht die Idee, einen auf individuelles Lernverhalten und individuelle Lernbedürfnisse zugeschnittenen effektiven, trainingsorientierten Prozess der Wissensvermittlung zu schaffen, der sowohl Interaktion der Lernenden untereinander als auch die virtuelle Supervision durch die Lehrenden beinhaltet. Demgegenüber bezeichnet reines Distance Learning lediglich die Verlagerung der Kommunikation zwischen Lehrenden und Lernenden auf den Computer- und Internet-Kanal. Neue Modelle des Lernens und der sozialen Zusammenhänge des Lernprozesses spielen dabei keine besondere Rolle.

 

Didaktiker befürworten mittlerweile am ehesten ein Konzept des Blended Learning, das verschiedene konventionelle und „virtuelle“ Lernumwelten und Ansätze der Wissensvermittlung ebenso miteinander verbindet wie Online- und Offline-Selbststudium oder Real-Life- und virtuelles Gruppenlernen. Das ist eigentlich eine Rückkehr zu einem Topos der Didaktik, wie er lange vor dem Einzug des WWW in die „classrooms“ bekannt war: Methodenmix und Methodenwechsel als beste Garanten für Lernaufmerksamkeit, Lernmotivation und Lernerfolg. Gerade für die angesprochene Herausforderung der Gegenwartsanalyse und der politikbegleitenden Forschung ist zwar ein volles Ausnutzen der zusätzlichen Möglichkeiten, die E-Learning bietet, unerlässlich. Jedoch wäre eine Übernutzung von E-Learning-Elementen in der Lehre nicht ertragreich, da es gerade in diesen Feldern auch um die Vermittlung von Soft Skills geht, um auf Erfahrung basierte Fähigkeiten. Dazu aber ist die Web-Lern- und Lehrumwelt erfahrungsgemäß weniger geeignet.

 

 

Internetgestütztes Lernen: Pro und Contra

 

Inzwischen gibt es in der Didaktikforschung ein relativ klares Bild von den Vorzügen und Nachteilen internetgestützten Lernens als vorherrschender Form des E-Learning. Frank Langer führt in seinem Artikel Internet: Methodische Hinweise zum Medieneinsatz im Sowi-Online-Methodenlexikon unter anderem die folgenden Aspekte an:

 

Vorzüge und Chancen internetgestützter Unterrichtsgestaltung:

 

      Ziele des Fachunterrichts verschmelzen mit der Qualifikation Medienkompetenz.

      Monomedial-lineare entwickeln sich zu multimedial-nichtlinearen Lern- und Denkstrukturen.

      Die Lernenden gewinnen erheblich an Motivation.

      Das Arbeitsverhalten der Lernenden wird transparent

      Das Lehrmaterial wird aktueller und um bisher nicht verfügbare Quellen ergänzt

      Neues Material steht sofort allen zur Verfügung

      Wesentliche neue Fertigkeiten auch im Bereich der Präsentations-Kompetenz werden gelernt

 

Nachteile und Gefahren internetgestützter Unterrichtsgestaltung:

 

      Die Konkurrenz von Lerninhalt und Lernmethode kann die Aufmerksamkeit, Wissensverarbeitungsfähigkeit und Arbeit der Lernenden beeinträchtigen

      Informationsflut kann das demotivierende Gefühl der Überforderung auslösen  

      Reproduktives Verhalten (Widergabe von Inhalten ohne selbstständige Auseinandersetzung) wird unter Umständen erleichtert

      Die scheinbare Leichtigkeit, zu inhaltlich fundierten Ergebnissen zu kommen, kann Lernprozesse oberflächlich werden lassen

      Die Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit elementaren Quellen der Wissensvermittlung und der wissenschaftlichen Arbeit (Buch und nicht online stehende Zeitschrift) kann schwinden.

      In Lernsituationen kann sowohl für die Lehrenden als auch für die Lernenden Kontrollverlust entstehen, und der Lernprozess kann unversehens in seinem ganzen Erfolg vom Funktionieren der Technik abhängig werden  

      Im Eifer des Multimedia-Lernens können die eigentlichen Lernziele und die Effektivität von Lernsituationen leiden

 

Hieran sieht man bereits, dass gerade im Zusammenhang mit wissenschaftlichen Fragestellungen eine Konzentration auf eine Universität ohne Anwesenheitspflicht didaktisch nicht tragfähig wäre. E-Learning funktioniert nicht von zu Hause aus. Es kann und muss die üblichen Lehr- und Lernformen ergänzen und aufbessern, statt sie abzuwerten oder zu ersetzen. Durch Blended Learning lässt sich am leichtesten ein Kombinationsweg finden, der die Vorteile des E-Learning so weit wie möglich nutzt und die Nachteile so weit wie möglich vermeidet.

 

 

Enttäuschung durch E-Learning-Euphorie

 

Für das Konzept Blended Learning spricht zudem, das eine Fixierung auf E-Learning dazu führen kann, dass Enttäuschung entsteht. Eine an der Universität Wien durchgeführte Politstudie macht dies sehr gut deutlich. Sie ist enthalten in der Präsentation E-Learning. Eine Einführung in das Telelernen (Menüpunkt 6):

 

Die erste Gefahr für Frustration im (nicht nur virtuellen) Seminarraum liegt darin, dass die Lehrenden in ihrem Rückgriff auf E-Learning riskieren, falsche Erwartungen zu bedienen; denn in der Wiener Studie zeigten sich die wenigsten (40 %) befragten Studierenden an einer Verbesserung der Lernqualität interessiert. Vielmehr erwarteten sie sich zuvorderst mehr Flexibilität im Lernen (85 %) und Zeitersparnis (75 %), aber auch ein individuelleres Lernen (72 %).

 

Die zweite Frustrationsgefahr liegt sogleich darin, dass E-Learning Angebote diesen Erwartungen offenbar nicht so sehr gerecht werden. Die Wiener Studierenden meinten nur zu 49%, dass E-Learning ihrer Erfahrung nach das Lernen wirklich auf alle Fälle flexibler mache. Ihre Erwartungen an Zeitersparnis durch E-Learning sahen lediglich 33% vollständig erfüllt. Eine Verbesserung der Lernqualität hatten sich ja nicht viele erwartet, aber diese wurden umso härter enttäuscht: Hier fanden nur 9%, dass E-Learning ihren diesbezüglichen Erwartungen voll entspricht.

 

 

Sinnvolle E-Learning Ressourcen

 

Im Bereich Internationale Politik und speziell im Bereich Sicherheitspolitik stellt sich die didaktische Entscheidung, inwieweit man auf E-Learning im weiteren Sinn zurückgreift, in der Kurspraxis aber oft gar nicht. Vielmehr erfordert es der Gegenstand in der Regel, die Online-Komponente der Wissensvermittlung von vornherein einzubeziehen. Ganz besonders gilt dies, wenn die Lehre sich auch das Ziel setzt, Fertigkeiten in der Gegenwartsanalyse und der politikbegleitenden Forschung zu vermitteln. Ohne regelmäßigen Rückgriff auf Internetressourcen wie – um zwei Beispiele informativ tief gehender Webpräsenzen herauszugreifen – die Homepage der NATO (www.nato.int) oder der Europäischen Union bzw. der Kommission (www.europa.eu.int) kann man heute kein sinnvolles sicherheitspolitisches Seminar mehr gestalten. Aktuelle Entwicklungen, Dokumente und Darstellungen institutioneller Gefüge finden sich im derzeit wieder so dynamischen Bereich der europäischen Sicherheitspolitik online am besten abgreifbar. Ein in diesem Zusammenhang ebenfalls besonders hervorzuhebendes Portal ist www.weltpolitik.net, ebenso wie www.euobserver.com.

 

Auch die Websites von Forschungseinrichtungen, wie dem Max-Planck-Institut für Internationale Politik und Völkerrecht, enthalten in der Regel interessante E-Learning-Komponenten, die sich zum Beispiel als virtuelle Sitzungselemente in Seminaren oder Vorlesungen nutzen kann. Die Webseite der Max-Planck-Gesellschaft enthält zum Beispiel eine nahezu vollständige Auflistung von Dokumenten und Links von wesentlichen Institutionen sowie der Rechtssprechung im Bereich des Völker- und Europarechts – nutzbar als ertragreiche Online-Lehrkomponente zum Themenfeld Internationale Organisationen und Institutionen. Erwähnenswert ist in diesem Bereich auch die Webseite Internationale Organisationen auf einen Blick, auf der man sich über sämtliche Internationalen Organisationen informieren kann. Es wird dabei mit äußerst anschaulichen Graphiken gearbeitet. Die Informationen selbst bleiben in dieser schönen Anschaulichkeit jedoch recht oberflächlich.

 

Eine unverzichtbare E-Learning-Ressource ist das International Security Network (www.isn.ethz.ch), das neben diversen Datenbankfunktionen auch interaktive Lehrmittel anbietet, wie zum Beispiel eine sicherheitspolitische Zeittafel mit eingebetteten Multimediakomponenten. Hier setzt aber auch schon die Kritik an: Positiv zu bewerten ist hierbei die Gliederung der Ereignisse in East-West Relations, Transatlantic Cooperation, European Integration und Global Events. Jedes Ereignis ist mit einem Link versehen, über den man einige wesentliche Informationen erhält. Leider bieten diese Infos nichts wirklich Neues, sondern enthalten lediglich Allgemeinwissen. Weiters ist negativ zu bewerten, dass der Zeitstrahl nur von 1945 bis 1963 reicht. Die wirklich integrationsrelevanten Jahre sind dabei völlig ausgenommen.

 

Auch als Komponente von E-Learning zu werten sind Zeitschriften für einen begrenzten Leserkreis aber von unmittelbarem studienbezogenen Interesse – wie zum Beispiel der Reader Sicherheitspolitik, der ursprünglich für die Zwecke interner politischer Bildung in der deutschen Bundeswehr geschaffen wurde, nun aber durch seine Netzpräsenz allen offen steht. Unter Maßgabe wissenschaftlicher Aspekte findet sich hier ein ausgezeichnetes Kompendium in aktuelle Fragen weltpolitischen Wandels, internationaler Friedenssicherung und Konfliktregelung sowie teilweise auch der theoriegeleiteten Analyse von Sicherheitspolitik. Abgedeckt werden nahezu alle Regionen der Erde.

 

 

Digitale Lehrbücher und Cyber-Seminare

 

Selbstverständlich hört E-Learning aber nicht damit auf, die Studierenden zum Surfen ins Internet zu schicken. Gerade in der Politikwissenschaft gibt es ambitionierte Projekte, über das Internet nicht nur eine Standardisierung von Kurskatalogen und inhaltlichen Mindestanforderungen zu erreichen, sondern ganze digitale Lehrbücher zu schaffen. Ein Beispiel ist das Projekt PolitikOn.

 

Darüber hinaus gibt es inzwischen eine Reihe kompakter Online-Kurse, die man individuell nehmen kann und die auch Fragen zur Wissenskontrolle beinhalten. Insofern machen sie bereits einen Schritt in Richtung auf Advanced Distributed Learning. Aus sicherheitspolitischer Sicht sind die folgenden vom International Security Network gesammelten Kurse besonders empfehlenswert:

 

      European Security and Defence Policy Online Course

      International Security Risks

      SPIRIT: Security Policy, International Relations, and Information Technology

      Chemical and Biological Weapons Non-Proliferation

 

Eine umfassende Sammlung politikwissenschaftlicher  Online-Lehrangebote stellt die Virtuelle Fachbibliothek Politikwissenschaft zur Verfügung.

 

Der große Vorteil von und ein gewichtiges Argument für die Verwendung von E-Learning in Lehre und Selbststudium ist neben dem Aspekt der Up-to-date-Information in Echtzeit sicher die Möglichkeit, komplexe Sachverhalte mit den Methoden der Computertechnologie gut verständlich darzustellen. Sofern man sich von E-Learning auch eine Stärkung der Individualität der Lernenden erwartet und sie an der „Konstruktion“ des zu vermittelnden Wissens aktiv teilhaben lassen möchte, sind angesichts der hyperkomplexen Informations- und „Programm“-Vielfalt, die das Internet bietet, die Grenzen sicher schnell erreicht. Aber es gibt bereits erprobte methodische Ansätze, um einerseits die Lernenden die Möglichkeiten des Netzes voll ausloten und ausschöpfen zu lassen, ohne sie dabei entweder zu überfordern oder ein derart komplexes Inhalts- und Zusammenhangswissen zu erzeugen, das auch konstruktivistisch nicht mehr zu vermitteln ist.

 

Ein solcher Ansatz ist das WebQuest-Verfahren: Das halbgesteuerte Durchsurfen des Netzes vor dem Hintergrund eines vorstrukturierten Frageschemas. Auch WebQuest kann man natürlich webbasiert lernen, und ein guter Einstieg dazu ist die Düsseldorfer Virtuelle Bibliothek, eine Sammlung von Links und Suchmaschinen, in der sich aber zum Beispiel auch ein Tutorial für die politikwissenschaftliche Recherche im Netz findet. Es handelt sich dabei um eine komplette Zusammenstellung aller relevanten Informationen, Tricks und Kniffe für ein zeitgemäß „informiertes“ Studium. Besonders wird außerdem auf die fachspezifischen Probleme bei Online- und Offline-Recherche in der Politikwissenschaft eingegangen.

 

Sich im Studium die positiven Potenziale von E-Learning zu erschließen, funktioniert sicher dann sehr gut, wenn man sich nicht von Angebot zu Angebot durchklickt (wie es unserem Internet-Nutzungsverhalten allerdings am ehesten entspricht), sondern auf einschlägigen Portalen – wie im Bereich der Sicherheitspolitik dem International Security Network (ISN)  – beginnt und einen klaren Bezugsrahmen folgt: zum Beispiel Lehrbuchangaben online „upzudaten“ oder in Lehrveranstaltungen nur gestreifte Aspekte selbstständig durch „zertifizierte“ Kurse zu vertiefen. Nur sollte man in den Relevanzkriterien den Vorgaben das Offline-Lehrmaterials und der eigenen Lehrenden folgen; denn die Online-Angebote bilden selbst keinen „Syllabus“, sondern sind einzelne Produkte zu einzelnen Themenbereichen, die sich derzeit noch nicht im Rahmen einer fachlichen Lehrsystematik weiter entwickeln. Aber genau das ist auch eine Einladung zur aktiven Teilnahme an einer konstruktivistischen Wissensbildung.

 

 

Universität Innsbruck
Stiftungsprofessur für Europäische Sicherheitspolitik

www.european-security.info

15.04.2005