Definition und Reichweite des Interessenbegriffs in den
internationalen Beziehungen:
Der innenpolitische Kommunikations- und Entscheidungsprozeß
über die Leitinteressen deutscher Außen- und Sicherheitspolitik.
Vortrag auf dem 7. Strausberger Symposium der Akademie der Bundeswehr für Information und Kommunikation: "Deutsche Interessen in der sicherheitspolitischen Kommunikation", 28.-30. Juni 2000.
Erweitert und überarbeitet erschienen in Olaf Theiler
(Hg.): Deutsche Interessen in der sicherheitspolitischen Kommunikation.
Tagungsband zum 7. Strausberger Symposium vom 28. bis 30. Juni 2000. Mit
Beiträgen von: Ulrich Albrecht, Ortwin Buchbender, Christian Hacke,
Hans-Victor Hoffmann, Adi Isfort, Holger H. Mey, August Pradetto, Alexander
Siedschlag, Olaf Theiler, Dieter Wellershoff. Baden-Baden: Nomos, 2001,
S. 17-35.
Geistesgeschichtlich gesehen ist der Begriff Interesse eine erstmals im 18. Jahrhundert von französischen und englischen Denkern (v.a. Helvetius, Bentham und Adam Smith) gebrauchte Kategorie zur Erklärung des sozialen Lebens. Sie bezeichnet die aus ursprünglichen, vitalen, sich selbst aktualisierenden Antrieben oder Bedürfnissen stammende Anteilnahme des Menschen an einer Sache oder einem Geschehen. In dieser Tradition bedeutet Interesse eine primär nicht von rationaler Einsicht bestimmte Verhaltensweise des kulturbedingten Auswählens, Vorziehens, Bedeutungsgebens und Wertens. Dennoch schwang in dieser frühen Begriffsverwendung - vor allem bei Adam Smith - die Idee des natürlichen Interessenausgleichs mit: Die freie Konkurrenz der Einzelinteressen bringt diese automatisch in Einklang untereinander und mit dem Interesse des Staates.
Immanuel Kant vertiefte sodann den Interessenbegriff in Hinsicht auf die Sinneswahrnehmungslehre und Ethik und wandelte ihn so ab, daß er im moralischen Sinn positive Bewertung fand: Durch das Interesse wird die Vernunft erst "praktisch, d.h. eine den Willen bestimmende Ursache". Dennoch setze sich in Deutschland schließlich der Interessenbegriff der materialistischen Geschichtsauffassung durch - unabhängig davon, ob nun hinter seiner Verwendung marxistisches Gedankengut stand oder nicht: Interesse als seinsbedingtes Eigennutzstreben, als sozialorganisatorisches Gesetz der kalkulierten Rücksicht auf den eigenen Vorteil bzw. den der eigenen Gruppe.
Diese Begriffsprägung wurde nach dem Zweiten Weltkrieg auch grundlegend für das Interessenkonzept der einflußreichen Schule des klassischen Realismus im Fach Internationale Politik. Vor allem war der Interessenbegriff hier eine objektive Kategorie: Interessen ergeben sich aus formalen Faktoren und transepochalen Gesetzen, und Interessen bestimmen nicht unmittelbar Handlungen, sondern Akteure können in ihrem Willen und ihrem Handeln ihre Interessen vielmehr verkennen und verfehlen.
Ab Anfang der 1970er Jahre verwendeten die Realisten und der entstehende deutsche Neorealismus den Begriff "nationales Interesse" immer weniger wertgeladen und präskriptiv, sondern empirisch-analytisch und als subjektive Kategorie: Das nationale Interesse bezeichnet hier nicht mehr Grundbedürfnisse eines bestimmten Staates und zugleich den Maßstab, um den Erfolg bei der Verwirklichung dieser Bedürfnisse zu bewerten. Sondern nationales Interesse ist nun das, was die Regierung - mit allen, manchmal tragischen Wahrnehmungsverzerrungen und Verkennungen der Lage - als solches definiert.
Der sich in den 1980er Jahren verbreitende neoliberale Institutionalismus und seine aktuellen Weiterentwicklungen gehen demgegenüber davon aus, daß die internationalen Verflechtungen und die wachsende Breite und Tiefe internationaler Institutionen gemeinsame Vorstellungen und Problemperspektiven schaffen, in deren Folge sich nationale Wertordnungen ebenso wie Interessen von vornherein einander angleichen. Schließlich komme es zur Entwicklung elementarer internationaler Harmonie, vor allem infolge eines wachsenden gemeinsamen Wahrnehmungs- und Kommunikationshorizonts.
Der Interessenbegriff als Analysekonzept hat dann keine besonders große Reichweite mehr. Aufschlußreicher sind die Prozesse und Triebkräfte der wechselseitigen Interessenangleichung und die Frage, wann und wie gemeinsame Interessen tatsächlich zu gemeinsamen Handeln führen, zum Beispiel auch in den Bereichen Konfliktprävention und Early Action. Hier setzen aktuelle Konzepte aus dem sogenannten reflexiven oder 'konstruktivistischen' Paradigma an. Als entscheidend für die Übersetzung gemeinsamer Vorstellungen und Interessen in gemeinsames Handeln gelten ihnen Kommunikationsprozesse, vor allem die internationale wie auch innenpolitische Kommunikation von politischen Leitbildern und deren Umsetzung in konkrete Politik mit Hilfe spezifischer Diskurspraktiken.
Gerade dieses Konzept ist interessant, wenn es um die Frage geht: Wie entstehen in Deutschland nationale Interessen, wie werden sie politisch definiert?
Ich spreche jetzt nach kurzen allgemeinen Bemerkungen der Reihe nach einige in diesem Zusammenhang wichtige innenpolitische Ebenen bzw. Akteursgruppen an.
Unter der doppelten Anforderung stehend, internationalen Erwartungen ebenso zu entsprechen wie ihren eigenen wertpolitischen Überzeugungen, bemüht sich die rot-grüne Bundesregierung, geschichtsbedingte Bilder deutscher Selbstidentität und die aus ihnen abgeleiteten Friedenskonzepte moralsteigernd international einzubringen. Dabei lassen sich spezifische Kommunikationsstile und Legitimationsmuster für die Definition deutscher Interessen ausmachen. Insbesondere ist nach wie vor ein bestimmter traditioneller Stil bundesrepublikanischer Außenpolitik vorhanden, der zu Problemen führen kann. Vor allem kann er zu Selbstüberforderung führen und zu Symbolpolitik - im Gegensatz zu problemorientierter und tatsachenbezogener Politik.
Ein Beispiel dafür ist die Rückbindung der Außenpolitik an historische Belastungen, aus denen dann konkrete Handlungserfordernisse und Interessenvorgaben abgeleitet werden. Solch eine Politik der Gegenwart der Vergangenheit war in Zusammenhang mit dem Kosovo-Krieg deutlich zu erkennen. Etwa in den Worten von Außenminister Fischer, der auf die Frage, welches Konzept und welche Interessen hinter der Entscheidung der Bundesregierung stünden, deutsche Soldaten auch als Bodentruppen in den Kosovo zu entsenden, immer wieder antwortete: "Nie wieder Krieg, nie wieder Auschwitz!"
Insgesamt muß man jedoch durchaus im Anschluß an das reflexive Paradigma sagen, daß außenpolitische Positionsbestimmungen sich immer weniger glaubhaft - und vor allem immer weniger innenpolitisch legitimierbar und durchsetzungsfähig - aus geopolitischen Faktoren, aus direkten Erfordernissen der Mitgliedschaft in internationalen Institutionen oder eben aus dem Druck der Vergangenheit herleiten lassen. Deswegen ist es auch unangemessen, nach einer pauschalen Interessenquelle zu suchen - zum Beispiel Deutschland als "Handelsstaat", als "Macht in der Mitte Europas" oder als Zivilmacht". Die deutsche Politik allerdings hat solche Floskeln lange Zeit aufgegriffen, um damit die Notwendigkeiten einer eigenen Standortbestimmung und der erwarteten kontroversen innenpolitischen und parteipolitischen Auseinandersetzungen darüber ein Stück weit übergehen zu können.
Breit angelegte innenpolitische Information und Kommunikation über Leitbilder und Leitinteressen deutscher Außen- und Sicherheitspolitik findet nach wie vor nicht statt - abgesehen von wechselseitigen Vorwürfen der Verantwortungs- und Konzeptlosigkeit im Rahmen parteipolitischen Schlagabtauschs und ebenfalls abgesehen von teilweisem Betroffenheitsaktionismus in Politik und Bevölkerung.
Nationale Interessen werden in Deutschland eher schleichend definiert und an veränderte internationale Bedingungen angepaßt. Die Frage der aktiven Beteiligung an militärischen Aktionen zur Sicherung und Wiederherstellung des Friedens zum Beispiel - die auch wichtige Fragen der nationalen Interessenbestimmung beinhaltet - wurde trotz aller jahrelangen Aufbauschungen, der Anrufung des Bundesverfassungsgerichts und diverser öffentlichkeitspolitischer Aktionen der großen Parteien schließlich schleichend gelöst und der Macht der Gewohnheit übergeben.
In letzter Zeit ist der Definitionsprozeß deutscher außen- und sicherheitspolitischer Interessen zwar öffentlicher erfolgt als gewohnt, dabei jedoch auch häufiger in den Sog unbedachter Parteipolitik geraten. Das hat streckenweise sogar zu einem Glaubwürdigkeitsverlust deutscher Sicherheitspolitik bei den NATO-Partnern geführt. Mit dafür verantwortlich war die im Bundestagswahlkampf 1998 von der SPD und von Bündnis '90/Die Grünen verwendete und dann in den Koalitionsvertrag geschriebene Parole "Deutsche Außenpolitik ist Friedenspolitik". "Friedenspolitik" allerdings, gleichgültig was konkret mit ihr gemeint ist, klingt insbesondere für amerikanische Ohren nicht gerade nach transatlantischer Verwurzelung und Bündnispartnerschaft.
In Deutschland beeinflussen die Parteien und ihre Programme dennoch nicht systematisch die Außen- und Sicherheitspolitik und die offizielle Bestimmung oder Nicht-Bestimmung nationaler Interessen. Vielmehr tun sie das höchst punktuell, wenn die Regierung einmal auf parteiübergreifenden Widerstand im Bundestag stößt, wenn die Regierungsparteien in relevanten Fragen zerstritten sind (wie im Konflikt zwischen CDU/CSU und FDP über die verfassungsrechtliche Zulässigkeit von Bundeswehreinsätzen im Ausland) oder wenn es der Opposition gelingt, außenpolitische Themen und Praktiken publik zu machen, die in der Bevölkerung auf breiten Widerspruch stoßen (wie geschehen ebenfalls in der Frage von Auslandseinsätzen der Bundeswehr, der Asylpolitik oder der Rüstungsexportpolitik).
Eine andere interessante Frage ist, inwieweit und wie Interessengruppen die Definition nationaler Interessen beeinflussen. Dabei ist festzuhalten: Die deutschen Spitzenverbände versuchen weniger, ihren jeweiligen Sonderinteressen Eingang in den außenpolitischen Willensbildungsprozeß zu verschaffen und sie damit zu nationalen Interessen zu machen, als vielmehr den allgemeinen Rückhalt für die internationale 'Geltung' deutscher Interessen zu verbessern. Dies erstreben sie vor allem durch die Beeinflussung der deutschen Personalpolitik in internationalen Organisationen.
Wenn es darum geht, systematisch den Definitionsprozeß deutscher außen- und sicherheitspolitischer Interessen im Regierungs- und Ministerialsystem nachzuvollziehen, kommt man mit den gängigen politikwissenschaftlichen Interessenbegriffen überhaupt nicht weiter. Vielmehr müßte man hier Decision-Making-Modelle und Bürokratie-Modelle anwenden - so wie sich das klassischerweise Snyder, Bruck und Sapin und Allison vorgestellt haben. Das aber ist ohne breite Feldstudien und die systematische Erschließung von Insiderwissen nicht vernünftig machbar. Fakt ist immerhin, daß bei uns die außenpolitische Infrastruktur in besonders hohem Maß von Kompetenzstreitigkeiten zwischen den Ministerien sowie Ressortmentalität und Grabenkämpfen innerhalb von Ministerien gekennzeichnet ist.
Das gilt zumal für die Interessenbestimmung in Querschnittsfragen, d.h. solchen Fragen, die die Ressortkompetenz mehrerer Ministerien gleichzeitig berühren. Aus dem Prinzip der Federführung ergibt sich, daß hier einem Ministerium die Schlüsselrolle zufallen kann, das in der reinen Sache keine ausgeprägte Kompetenz besitzt, wohl aber die Entscheidungsbefugnis über die erforderlichen Ressourcen, und das sind meistens Finanzmittel. So kommt es, daß auch bei außen- und sicherheitspolitischen Fragen und bei der Aushandlung internationaler Konventionen das Finanzministerium als häufiger Federführer zumindest eine Veto-Position gegen die Definition und die Verwirklichung nationaler Interessen hat - nämlich immer dann, wenn sie Geld kosten.
Wo liegt nun zusammenfassend gesagt der Nutzen und wo liegen Gefahren des Interessenbegriffs im Bereich Außen- und Sicherheitspolitik?
Trotz seiner heutzutage begrenzten Reichweite kann der Begriff nationales Interesse zunächst eines klarmachen und in Erinnerung halten: Spezifische Richtgrößen für die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik lassen sich nicht stichhaltig aus internationalen, regionalen und globalen institutionellen Vorgaben (NATO, EU, OSZE und UNO) oder aus einem moralpolitischen Gebot herleiten, weltweit als Bote der Demokratie aufzutreten. Politik - auch in der Gesellschaftswelt - kommt nicht umhin, eigene Positionen zu beziehen, und zwar auf der Grundlage eines internationalen ebenso wie innenpolitischen Kommunikations- und Legitimationsprozesses.
Fundamental ist der Begriff nationales Interesse nach wie vor auch, um langfristig die Orientierungsgrößen der Außen- und Sicherheitspolitik eines Landes darzulegen und damit den Vergleich zu anderen Staaten zu ermöglichen. Wie das vor allem der deutsche Neorealismus als Forschungskonzept vertritt, verdeutlicht ein Einarbeiten in die Interessenperspektiven anderer Staaten die Grenzen der eigenen Interessen und zeigt den Realitätssinn einer spezifischen Politik auf.
Je mehr der Eifer der guten Gesinnung jedoch dazu führt, die Bestimmung deutscher Interessen an Bekenntnissen für allgemeine Grundwerte festzumachen, desto mehr laufen diese Interessen als politische Richtgröße und auch als Orientierungspunkt für die internationalen Partner Gefahr, in der Praxis ignoriert zu werden; denn man kann sie nicht mehr fallspezifisch in greifbare Ziele umsetzen.
So wie der Begriff nationales Interesse momentan in Deutschland verwendet wird, liegt seine größte Gefahr darin, reine Gesinnungen zum Ausdruck zu bringen und Gesinnungen als politisches Programm festzuschreiben - ohne Rücksicht auf den Einzelfall, auf internationale Kompromißerfordernisse und vor allem ohne Rücksicht auf die zur Verfügung stehenden (oder eben fehlenden) Mittel. Glaubhaft und praktikabel kann aber auf die Dauer nur ein nationales Interesse als Verantwortungsethik sein. Dazu gehört Skepsis gegenüber scheinbar universellen Moralnormen und vor allem eine tatsachenbezogene und problemorientierte Politik, kein - nur schwer an politischen Erfolgskriterien zu messender - Weltverbesserungsdrang.