Wie konstruiere ich mir eine Wissenschaft?

Rezension zu Gunther Hellmann / Klaus Dieter Wolf / Michael Zürn (Hg.): Die neuen Internationalen Beziehungen. Forschungsstand und Perspektiven in Deutschland. Baden-Baden: Nomos, 2003. (= Weltpolitik im 21. Jahrhundert, Bd. 10)

von Alexander Siedschlag, Berlin/München
 

Der Band macht deutlich, dass wir es inzwischen mit zwei großen Forschungssträngen, wenn nicht Paradigmen, einer Politischen Wissenschaft internationaler Phänomene zu tun haben: Internationale Politik und Internationale Beziehungen. Das in Deutschland seit der Weimarer Republik bestehende klassische Fachgebiet Internationale Politik versteht sich als ein Teilbereich der Politischen Wissenschaft, der nicht in erster Linie der Debattierung weltgesellschaftlicher Prozesse, sondern der Analyse beobachtbaren politischen Entscheidungshandelns zu dienen hat. Im Gegensatz dazu steht das seit etwa zehn Jahren entstehende Fachgebiet Internationale Beziehungen ("IB"), aus dem der vorliegende Band entsprungen ist. Die jargonträchtige deutsche "IB-Community" (S. 24) sieht sich – folgt man dem Eindruck, den die Mehrzahl der 17 Beiträge bei einem interdisziplinär arbeitenden Rezensenten aus der Internationalen Politik hinterlässt – eher als zunftartige Wissensgemeinschaft beinahe schon außerhalb der Politischen Wissenschaft. Dies umso mehr, als der Verwertungszusammenhang von Erkenntnis, insbesondere auch die Fähigkeit zu Zukunftsprojektionen und zu technischer Kritik politischer Handlungsalternativen für die IB-Forschung nach dem Buch zu urteilen keine Rolle spielt. Das ist auch beinahe besser so, wenn man etwa Peter Mayers ersatzphilosophisches Abmühen mit dem IB-Forschungsstand zu denjenigen "epistemologischen" Grundlagen des Erklärens (S. 47-97) liest, die für unsere Belange seit 200 Jahren als praktikabel geklärt gelten können, oder in Risses Suppenküche ("warum empirisch nichts so heiß gegessen wird, wie es theoretisch gekocht wurde", S. 99-132) des erkenntnistheoretisch unbefleckten Anything-Goes-Konstruktivismus blickt.

Natürlich kann man – im Gegensatz zu Risses Fehlauffassung (S. 104) – "Konstruktivismus" und "Rationalismus" ganz deutlich wissen(schaft)stheoretisch unterscheiden. Denn die interdisziplinär zu verstehende Kernaussage eines jeden soliden Konstruktivismus ist eben nicht, dass alles immer irgendwie testend konstruiert wird, sondern: Die Welt kann so sozial konstruiert sein wie sie will, doch sobald sich die Akteure darauf einlassen, in dieser Welt zu Handeln und Sinn zu suchen, wird sie objektiviert und von den Konstruktionsprozessen abgelöst, die sie hervorgebracht haben (so schon, sonst in dem Band oft bemüht, Peter L. Berger/Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, 1980, z.B. S. 65).

Wohl um sich über ihren Stellenwert besser zu selbstvergewissern, verschweigen alle in diesem Buch versammelten "IBler" (S. 579), dass fundamentale, nach wie vor wirkende deutsche Innovationen bereits in den 1970er-Jahren stattfanden und vor allem aus dem Paradigma des Realismus stammten. Ein Beispiel war die Münchner Schule um Gottfried-Karl Kindermann, die den weltweit ersten Neorealismus entwickelte. Doch das Ausblenden vorhandener Erkenntnis macht auch vor dem Konstruktivismus selbst nicht halt. Die besonders fortgeschrittene konstruktivistische Außenpolitiktheorie der Miami-Schule (v.a. Nicholas Onuf und Vendulka Kubálková) zu übergehen, erleichtert es zum Beispiel Sebastian Harnisch, deutsche Innovationen "theorieorientierter Außenpolitikforschung in einer Ära des Wandels" zu konstruieren (S. 313-360).

Ein Grundproblem auf einer anderen Ebene macht der Beitrag von Mathias Albert über IB als eine "'Wissenschaft vom Globalen'" (S. 570) deutlich. Würde hier eine langfristige und breite Perspektive der Fachentwicklung eingenommen, so wäre zu sehen: Der Realismus war gerade eine Antwort auf das Scheitern des nach dem Ersten Weltkrieg dominierenden gesellschaftsoptimistischen Proto-Globalismus (und seines politikwissenschaftlichen Pendants, des Idealismus) als globalem Friedensprogramm.

Den Selbstanspruch, "einen perfekten Einstieg in gegenwärtige Debatten für fortgeschrittene Studierende" (Klappentext) zu liefern, kann der Band bereits deshalb nicht einlösen, weil er an entscheidenden Stellen viel mehr zur Art und Weise der Selbstinszenierung und Klüngelbildung aussagt als zum materiellen Forschungsstand und vor allem zur Methodik der "IB". Man erfährt gut aufbereitet, auf welcher schwäbischen Tagung welche Arbeitspapiere diskutiert wurden, nicht aber, was nun das Besondere am IB-Konstruktivismus sein soll – wenn es, wie wir dem Buch entnehmen können, weder die Wissenschaftstheorie noch die Erkenntnistheorie, die Methode, die Praxisrelevanz oder gar ein intersubjektiv anschlussfähiger Erkenntnisfortschritt ist. Da bleibt dann nicht viel mehr übrig als der Eindruck systematischer Unschlüssigkeit. Gleichwohl uneingeschränkt mit Gewinn lesen lassen sich, ausdrücklich gesagt, die erfrischend an der Sache statt an der "Community"-Konstruktion orientierten Beiträge zu den Gegenstandsbereichen Krieg und Gewalt (Christopher Daase), Frieden (Harald Müller), Internationale Regime (Detlef F. Sprinz), Entwicklungstheorie (Joachim Betz) sowie Politische Ökonomie (Christoph Scherrer).
 

http://www.siedschlag.de.vu/die_neuen_ib.html
Dezember 2003


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