Ernst-Otto CZEMPIEL: Kluge Macht. Außenpolitik für das 21. Jahrhundert. München 1999. Verlag C.H. Beck. 274 S. 48,- DM.

Alexander Siedschlag

Wie sieht Außenpolitik unter den Bedingungen einer postulierten fortschreitenden Überlagerung, ja Ersetzung traditioneller zwischenstaatlicher Beziehungen durch eine "Gesellschaftswelt" und durch multilaterale Vernetzungen mit untraditionellen politischen Steuerungsprinzipien (z.B. internationale Regime und Governance) aus? Um das zu beantworten, greift Czempiel einen typischen Begriff sozusagen aus dem Gegnerlager, dem Realismus, auf: Macht. Allerdings müsse Macht "kluge Macht" sein. Vor allem deshalb, weil Außenpolitik faktisch sowieso einer "internationalisierenden Politik" gewichen sei: "Die Interdependenz hat die Schale des Staates aufgebrochen; die emanzipierten gesellschaftlichen Akteure sind in die internationale Umwelt vorgestoßen und konkurrieren dort mit dem Politischen System um die Erzeugung von Werten, die in der Gesellschaft verteilt werden." (S. 71)

Prägnante, flüssig in die exzellent lesbare Argumentation eingeflochtene Begriffsbestimmungen dieser Art machen viel von dem praktischen Wert aus, den der Band trotz grober Verkürzungen und Einseitigkeiten besitzt. An erster Stelle unter diesen Mängeln rangiert, daß Czempiel für den Stand der Diskussion keineswegs mehr repräsentative Beiträge aufwärmt und dafür maßgebende aktuelle übergeht. Vor allem Werner Links Neuordnung der Weltpolitik, die sich aus einer neorealistischen Perspektive heraus ausgiebig mit Stukturparametern der internationalen Politik und deren Wandel befaßt, wird die ganze Zeit außen vor gelassen, um dann gegen Ende (S. 237) in einer Fußnote abgetan zu werden. Total verzerrt ist die Auseinandersetzung mit Grundpositionen aus dem realistischen Paradigma (Kap. I, v.a. S. 20-22): Gerade der klassische Realismus Hans J. Morgenthaus betrachtete "kluge" Macht - das Abwägen der Folgen alternativer Handlungen und anscheinend moralisch vertretbaren Vorgehens - als höchste Tugend der Politik. Darüber hinaus: Weltbilder waren für den klassischen Realismus und sind für die europäischen Neorealisten alles andere als zeitlos, und wenn jemand die Aggregationsebene des internationalen Systems mit der Ebene monistisch gedachter Einzelakteure vermengt hat, dann war das nicht Morgenthau, sondern allenfalls Kenneth Waltz. Waltz' "shape-and-shove"-Axiom als dynamische Verbindung der Aggregationsebenen Staat und internationales System übersieht Czempiel gleich ganz - und auch, daß kein Neorealist das Balance-of-Power-Prinzip so zerpflückt hat wie Waltz.

Gediegener als die theoriebezogenen Ausführungen sind die Problembeispiele (Kap. II-IV) - wenngleich sie übermäßig auf die Makro-Region "Euro-Atlantik" zugespitzt sind. Czempiel liefert scharfsinnige Beobachtungen und engagierte politische Plädoyers. Besonders hervorzuheben sind die Ausführungen zum Sachbereich der Sicherheit, die der verbreiteten Untugend entgegenarbeiten, Sicherheit mit Verteidigungsfähigkeit zu verwechseln. Sicherheit bedeutet auch Politik: Bedrohungsabbau, Demokratisierung, Vertrauensbildung, vielgleisige Diplomatie, Kultur der Konfliktprävention u.a. Um so bedauerlicher ist es, daß Czempiel die NATO als reine Militärallianz hinstellt, ihren politischen Pfeiler übergeht und behauptet, sie sei kein Produzent politischer Ordnung. Was aber ist dann mit dem Euro-Atlantischen Partnerschaftsrat, den Kooperationseinrichtungen z.B. mit Rußland und der Ukraine oder der Rolle des Generalsekretärs? Angemessener ist die Würdigung der OSZE, die aber logisch darunter leidet, daß die entscheidenden neuen Gremien und Mechanismen erst später angesprochen werden. Wegweisend dagegen ist Czempiels kritische Auseinandersetzung mit dem Trend zur Aufweichung des Gewaltmonopols des UN-Sicherheitsrats (dessen Wert und Funktionsmöglichkeiten Neorealisten zu bestreiten bzw. zu verkennen neigen), seine Kritik der "humanitären Intervention" und sein dankenswerter Versuch, der deutschen Diskussion und Politik endlich den Unterschied zwischen kollektiver Verteidigung und Kollektiver Sicherheit klarzumachen.

Am Ende steht ein klares und vor dem Hintergrund jedenfalls von Czempiels Argumentationsfeld stringentes Plädoyer dafür, "Beziehungsmacht" mehr und mehr durch "Konsensmacht" zu verdrängen, welche die Bedingungen internationaler Interdependenz reflektiert (Kap. V). Mit seiner abschließenden Bemerkung, daß Macht nach wie vor "das Elixier der Politik, gerade der Außenpolitik" ist (S. 246), ist eigentlich die Brücke gebaut, um dem Realismus nicht fälschlicherweise ein Eintreten für moralfreie und wirklichkeitsfremd gewordene "Realpolitik" vorzuwerfen - wie das Czempiel leider am Schluß nochmals tut -, sondern um eine neue Ebene des paradigmenübergreifenden Dialogs zu eröffnen. Nicht zuletzt deshalb ist es wünschenswert, daß die diskussions- und kritikwürdige "Kluge Macht" viel Aufmerksamkeit findet.


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