Manuel Castells: Der Aufstieg der Netzwerkgesellschaft. Teil 1 der Trilogie Das Informationszeitalter. Übersetzt von Reinhart Kößler. Opladen: Leske + Budrich, 2001, 600 Seiten, 68.- DM, ISBN: 3-8100-3223-9

Alexander Siedschlag

Widersprüchliche Kräfte kennzeichnen das Informationszeitalter und den Aufstieg der Netzwerkgesellschaft. Die Entwicklung der politischen und sozialen Institutionen des 21. Jahrhunderts wird sich Manuel Castells zufolge danach richten, wie man diese Spannungen zu bewältigen versucht. Der Aufstieg der Netzwerkgesellschaft – das ist auf der einen Seite eine immer mächtiger werdende globale Elite, die Informationsmonopole errichtet und mit komplexen Medienstrategien danach trachtet, Wahlen und Politik gemäß ihren Eigeninteressen zu beeinflussen. Ein wichtiges Instrument dafür ist Skandalpolitik: Sensationsgeladene Geschichten – meistens TV-Stories – werden benutzt, um über gezielte Verschiebungen in der öffentlichen Meinung Wahlergebnisse zu beeinflussen und bestimmte politische Ziele zu erreichen. Diese zynische Verachtung des demokratischen Status der öffentlichen Meinung durch die Informationseliten ist nicht nur für Castells ein zunehmender und zunehmend Besorgnis erregender Trend. Aus seiner Sicht sind die wichtigste Politikarena heutzutage die Medien; und die Medien sind nicht zur Verantwortung zu ziehen.

Auf der anderen Seite eröffnet die Netzwerkgesellschaft, wie Castells erläutert, neue Möglichkeiten für demokratische, diskursorientierte Mechanismen der Meinungsbildung und politischen Entscheidungsfindung. Er zeichnet nach, wie virtuelle Netzwerke Aktivistengruppen wie zum Beispiel Umweltschützer mobilisieren können. Die wichtige strittige Frage, ob das Internet zu einer interaktiven Gesellschaft führt, ob es die Entwicklung neuer Gemeinschaften begünstigt, wird allerdings auch von Castells nicht beantwortet. Nach einigem Hin und Her redet er sich auf die Position heraus, die Menschen könnten zwar am Bildschirm ein Parallelleben führen, seien aber durch ihr physisches Ich gebunden; trotzdem erleichterten die virtuellen Gemeinschaften es ihnen, über ihre Identität nachzudenken (S. 407). Multimedia als symbolische Umwelt, die aber interpretationsgebunden ist – sich also je nachdem früher oder später mal so auswirken kann und mal so. Für den Leser keine große Belohnung, wenn er sich über 400 Seiten bis zu diesem Statement durchgearbeitet hat.

Trotzdem ist für Castells die Diagnose der grundlegenden Malaise – aber eben doch auch Chance – des Informationszeitalters von Anfang an klar: „Unsere Gesellschaften sind immer mehr um den bipolaren Gegensatz zwischen dem Netz und dem Ich herum strukturiert.“ (S. 3) Die Menschen schöpfen ihre Interpretation der Welt nicht mehr daraus, was sie tun, sondern daraus, was sie sind oder sich vorstellen zu sein – also aus Identitätskonstruktionen. Diese Konstruktionen können zum einen tief historisch verwurzelt sein, zum anderen jedoch sind sie an die „globalen Netzwerke des instrumentellen Austauschs“ gebunden, die je nachdem Individuen, Gruppen, Religionen oder ganze Länder selektiv an- und abschalten. Deshalb neigt die Technologie des Informationszeitalters dazu, gesellschaftliche und politische Kommunikation so lange unter Druck zu setzen, bis sie in der Gefahr steht zusammenzubrechen. Selbst konflikthafte Kommunikation (wie sozialer Kampf oder politische Opposition) wird dann unmöglich, die beteiligten Gruppen entfremden sich von einander, sehen den Anderen als Feind, schließlich als Existenzbedrohung.

Die Gesellschaft und die Politik können die globalen Netzwerke und ihre Technologie nicht determinieren, aber der Staat kann – wie Castells erläutert – ihre Entwicklung ersticken oder aber sich produktiv auf ihre Möglichkeiten einlassen. Um dies erfolgreich tun zu können, müssen die sowohl technischen als auch die politisch-soziologischen Möglichkeiten und Grenzen des Mediums Internet klar sein, und zu beiden Voraussetzungen trägt der Band bei, in dem der historische Ablauf der informationstechnologischen Revolution griffig nachgezeichnet wird (Kap. 1).

Dabei weist Castells schlüssig nach, dass die soziale und politische Bedeutung des Internets eben nur bruchstückhaft verstanden wird, wenn man sie aus dem Blickwinkel der Kommunikation betrachtet: Das Internet ist „reale Virtualität“, es setzt ein aktives Publikum voraus: Kommunikationsprozesse – vor allem ihre gesellschaftliche und politische Wirkung – sind abhängig von der Interpretation der Botschaft, und diese Interpretation hängt von der Interaktion zwischen Sender und Empfänger ab (S. 383). Deshalb schafft das Internet auch keine Massenkultur, sondern führt unweigerlich zu einer Aufteilung des Massenpublikums in einzelne, oft voneinander isolierte kleinere Informations- und Kommunikationswelten. Diesen Trend sieht Castells auch für die computervermittelte Kommunikation, die also nicht zur Vereinheitlichung, aber auch nicht zur demokratischen Gleichheit führt, sondern als ein „weltweites Gewebe individualisierter, interaktiver Kommunikation“ spontanen, informellen Informationsaustausch zulässt (S. 403). In diesem Sinn ähnelt computervermittelte Kommunikation für Castells eher einem pulsierenden mittelalterlichen Basar als einer zeitgenössischen Shopping Mall, in der die Form der Funktion folgt.

Castells versteht und beschreibt das Informationszeitalter schon im ersten Band seiner Trilogie umfassender als das hier gewürdigt werden kann. Das Wirkungsdreieck Internet – Politik – Gesellschaft ist nur eine Facette. Dazu kommen u.a. „Informationalismus“ als neue Wirtschaftsform, Netzwerk-Unternehmen und „informationelle Ökonomie“, die Transformation von Arbeit und Beschäftigung und die zeitlose Zeit. Was leider nicht dazukommt – bzw. so wie in der englischen Originalausgabe erst am Ende des dritten Bandes nachgeschoben werden wird – ist ein roter Faden und eine Matrix, in die die Leser die vielen interessanten Fakten und Interpretationsansätze einordnen können.

Hier rächt sich, dass der Autor es sich trotz seiner 12-jährigen Arbeit an der Trilogie in einem Punkt zu leicht gemacht hat: „Zur Methode“ gibt er lapidar an: „Dies ist kein Buch über Bücher“ (S. 26). Noch nicht einmal für klare Definitionen kann er sich entscheiden, sondern wägt in Fußnoten verschiedene Definitionsvorschläge immer wieder gegeneinander ab, oft ohne schließlich selbst Stellung zu beziehen. Sowieso versteckt er sich, sobald es weniger empirisch und mehr analytisch wird, gerne hinter versatzstückartigen Literaturberichten. Wenn Castells sich schon auf Max Webers methodische Prinzipien beruft (S. 225f.), hätte er sie auch konsequent anwenden sollen:

Zwar sagt Weber, dass der konkrete historische Begriff der Wirklichkeit nicht am Anfang, sondern nur am Schluss der Untersuchung stehen kann. Doch umso mehr müssen die grundlegende Kategorien und idealtypischen Messlatten der Analyse bereits am Anfang klar sein. Gleichwohl ist der Band mit Gewinn zu bewältigen, vor allem dann, wenn man in der Lage ist, ihn sozusagen von hinten nach vorne zu lesen. Auf der letzten Seite kommt nämlich doch noch so eine Art roter Faden: Wir befinden uns inzwischen in einem „rein kulturellen Muster sozialer Interaktion und gesellschaftlicher Organisation“, und der Schlüssel zum Verstehen dieses Musters liegt in den Botschaften und Bildern, die zwischen den Teilnetzwerken hin und her strömen (S. 536).
 


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